In der Kommunikation über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt stehen wir noch immer vielen Herausforderungen gegenüber, findet Markus Hoppe. Als Diversity Trainer und Co-Gründer der Hamburger Initiative WELCOMING OUT, die sich dafür einsetzt, Menschen ein angstfreies Coming-out zu ermöglichen, ist er mehr als vertraut mit sich wiederholenden, schädlichen Narrativen, mit denen sich die queere Community immer wieder konfrontiert sieht. In seinem Gastbeitrag fordert er alle, aber insbesondere die Kommunikationsbranche auf, ganz genau hinzuschauen, wie über Reizthemen wie Gendersprache gestritten wird.
Selber hören macht schlau. Hier gibt’s den Artikel als reine Audiospur:
„Als ich heute Morgen aufgestanden bin und mit meiner Frau über den Vielfaltsworkshop gesprochen habe, den ich heute besuchen muss, hat sie nur gesagt: ‚Mein Beileid!‘ […]“
Hey, mein Name ist Markus Hoppe. Wie ihr leicht am vorherigen Satz erkennen könnt, arbeite ich u.a. als Diversity Trainer. Das obenstehende Zitat war sinngemäß der Einstieg eines Teilnehmers in die Feedbackrunde eines Diversity Trainings, das ich vor einiger Zeit bei der Feuerwehr Hamburg gegeben habe. Es macht deutlich: Allein das Wort „Vielfalt“ ist für manche Menschen schon eine red flag, mit der zumindest ein Augenrollen und die Erwartung eines anstrengenden Themas einhergeht. Aber ist diese Erwartung auch berechtigt? Hier das komplette Zitat:
„Als ich heute Morgen aufgestanden bin und mit meiner Frau über den Vielfaltsworkshop gesprochen habe, den ich heute besuchen muss, hat sie nur gesagt: ‚Mein Beileid!‘. Und genauso bin ich auch in diesen Workshop gegangen: Ich hatte keine Lust und war sicher, es wird nervig und anstrengend. Aber jetzt, nachdem der Workshop rum ist, muss ich sagen, dass ich besser verstehe, warum eine Auseinandersetzung mit dem Thema Vielfalt wichtig ist und warum es mich mehr betrifft, als ich dachte. Und vor allem weiß ich jetzt, dass die Thematisierung nicht zwangsläufig nervig und anstrengend sein muss. Deswegen ein großes Kompliment und vielen Dank an euch!“
Ausgehend von der Erfahrung des Teilnehmers lässt sich also sagen: Nein, Erwartung und tatsächliche Erfahrung passen nicht immer zueinander. Bleibt die Frage, warum etwas wie „Vielfalt“ bei einigen so negativ konnotierte Erwartungen auslöst? Zugegeben: Es gibt teilweise aktivistische Stimmen aus der queeren Community, die nicht-queere Menschen auf existierende Problemlagen und Diskriminierungen hinweisen, dies aber in einer Art und Weise tun, die dazu geeignet ist, Widerstand zu erzeugen. Sowas kann natürlich die Erwartungshaltung zum Thema „Vielfalt“ prägen. Meiner Erfahrung nach gibt es aber etwas, was einen deutlich stärkeren Einfluss auf negativ konnotierte Erwartungen hat, weil es Ängste schürt und (bewusst) irreführend ist: Ein Phänomen, das ich immer wieder und gerade auch aktuell sehr massiv beobachte, ist, dass viele kontroverse Diskussionen rund um das Thema Vielfalt auf der Grundlage von Scheinargumenten geführt werden. Damit meine ich, dass viele Debatten auf einer Grundannahme basieren, die falsch ist und jegliche Argumentationsketten, die sich von da aus entspinnen, führen letztlich am wahren Kern des Themas vorbei, weil sie von unwahren Prämissen ausgehen. Um das etwas plastischer zu machen, habe ich als Beispiel noch ein Zitat mitgebracht:
„Wenn wir jetzt alle schwul, lesbisch und trans werden sollen, dann ist die Evolution am Ende.“ (Sabine Mertens, Initiatorin der Hamburger Petition „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“, Hamburger Abendblatt vom 08.02.2023)
Ich liebe dieses Zitat, denn es eignet sich wunderbar, um einige der gängigsten falschen Prämissen zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt aufzuzeigen, die immer noch Einzug in Mainstream-Debatten und Berichterstattung finden. Kurz zur Einordnung: Sabine Mertens hat die o.g. Petition in Hamburg ins Leben gerufen und mittlerweile auch die benötigte Anzahl von mind. 10.000 Unterschriften erreicht, die es braucht, um in die Hamburger Bürgerschaft eingebracht zu werden. Der Gegenstand der Petition ist „Gendersprache“, in der Tat ein Reizthema, das gesellschaftlich kontrovers diskutiert wird. Ein Verbot der „Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ steht also drauf. Ist es auch das, worum es Sabine Mertens ausschließlich geht?
Falsche Prämissen verzerren den Diskurs
Offensichtlich nicht, denn beim Gendern geht es „nur“ darum, dass alle Geschlechter in der Sprache sichtbar gemacht werden. Von daher gibt es zwar einen Bezug zum Geschlecht aber keinen unmittelbaren zur Geschlechtsidentität von Menschen und schon gar keinen zur sexuellen Orientierung. Und dennoch scheint das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt Frau Mertens in diesem Kontext umzutreiben. Der einzige Zusammenhang, der sich an dieser Stelle herstellen ließe, basiert auf der ersten falschen Prämisse: Es gibt eine Art Lobby der vermeintlichen Minderheiten, die der vermeintlichen Mehrheit Dinge aufdrängen möchte. Frau Mertens spricht davon, dass „wir alle“ „schwul, lesbisch und trans werden SOLLEN“. Das Wort „sollen“ ist hier entscheidend. Es gibt hier also scheinbar eine Absicht von einer nicht näher konkretisierten Gruppe. Und diese Gruppe nutzt, gemäß dieser Logik, z. B. „Gendersprache“, um dieses Ziel zu erreichen. Das mag jetzt erstmal nach einem absurden Einzelfall klingen, aber tatsächlich findet sich dieses Motiv häufig in der eher ablehnenden Auseinandersetzung mit Themen rund um geschlechtliche und sexuelle Vielfalt.
Die zweite falsche Prämisse im Zitat lautet: Die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität lassen sich von außen beeinflussen. Hier spielt das Wort „werden“ aus dem Zitat die entscheidende Rolle. Es ist zwar heute immer noch nicht im Detail geklärt, welche Faktoren in welcher Gewichtung dazu führen, dass Menschen beispielsweise homosexuell oder trans sind, aber es ist zum einen klar, dass es ein Zusammenspiel verschiedenster Einflüsse gibt und zum anderen, dass dieses Sein nicht von außen veränderbar ist. Das bedeutet: Es ist weder erlernbar noch „en vogue“. Es gibt also nicht vermeintlich zu viele Informationen darüber oder zu viel Sichtbarkeit von LGBTIQ+ Themen, die Menschen schwul, lesbisch oder trans werden lassen. Weder in der Schule noch in den Medien noch sonst irgendwo. Darüber besteht genauso ein wissenschaftlicher Konsens, wie über den menschengemachten Klimawandel. Und dennoch zieht sich diese falsche Prämisse durch unglaublich viele Debatten.
„Alle“ ist das Stichwort für eine dritte, sehr weit verbreitete falsche Prämisse: „Wenn wir jetzt ALLE schwul, lesbisch und trans werden sollen, dann ist die Evolution am Ende“. Es gibt auch andere Versionen dieser Aussage, z.B.: „Wenn alle Menschen LGBTIQ+ wären, dann würde die Menschheit aussterben.“. Mal losgelöst davon, dass dieser Schluss außer Acht lässt, dass auch queere Menschen fortpflanzungsfähig sind (und sich auch fortpflanzen), ist der springende Punkt vielmehr: Es sind nicht alle Menschen LGBTIQ+. Diese Erzählung ergibt daher auch nur Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität von außen beeinflussbar seien und es deswegen immer mehr LGBTIQ+ Personen werden würden, wenn es nach dieser ominösen „Gender-Lobby“ geht. Dass Menschen teilweise das Gefühl haben, dass die Zahl der LGBTIQ+ Personen zunimmt, hat damit zu tun, dass diejenigen, die schon immer da waren, mit abnehmender Diskriminierung zunehmend sichtbarer werden. Warum? Es ist wie mit den Linkshänder*innen. Als es gesellschaftlich sanktioniert wurde, die linke Hand zu präferieren, haben Menschen gezwungenermaßen die rechte Hand trainiert und der Anteil der praktizierenden Linkshänder*innen war sehr klein. Der Anteil ist dann korrelierend zur Abnahme sozialer Sanktionen gestiegen, bis er sich bei ca. 10-12 Prozent der Bevölkerung eingependelt hat und dort seit Jahrzehnten stagniert. Aktuell befinden wir uns bei LGBTIQ+ Personen auch in dieser Phase, in der mehr und mehr Menschen als Teil der Community sichtbar werden und auch hier wird sich ihr Anteil irgendwann einpendeln.
Scheinargumente verschleiern menschenfeindliche Positionen
Das sind also drei beispielhaft falsche Prämissen, die immer wieder still, heimlich und subtil Einzug in gesellschaftliche Debatten erhalten. Bleibt die Frage: Warum werden sie verwendet? Was ist die Absicht, die Motivation dahinter? Wenn diese falschen Prämissen bewusst genutzt werden, dann mutmaßlich, um bestimmte gesellschaftspolitische Positionen mehrheitsfähig zu machen. Eventuell steht eine menschenfeindliche Einstellung hinter solchen Positionen, die nicht anschlussfähig ist. Durch die Tarnung als Scheinargument, z. B. der Schutz von Kindern, wird sie dann aber vermeintlich mehrheitsfähig. Zusätzlich werden dann Themen vermischt, die nichts oder nur mittelbar miteinander zu tun haben, wie am Beispiel der Gendersprache und der sexuellen Orientierung gezeigt.
Häufig aber werden diese Scheinargumente gar nicht bewusst eingesetzt, sondern wurden aufgeschnappt und dann unreflektiert übernommen und reproduziert. Eventuell, weil sie ohnehin ganz gut zur eigenen Einstellung passen. Wir Menschen neigen ja dazu, kognitive Dissonanzen zu vermeiden und nehmen daher dankend vermeintliche Fakten an, die uns in unserem Weltbild bestärken.
Selbstreflexion und kritischer Blick
Aber was hat das Ganze mit WELCOMING OUT oder CROSSMEDIA oder generell mit der Arbeit von Agenturen zu tun? Nun, kurz gesagt, es hat viel damit zu tun, einen bewussten Umgang mit Diskussionen und Debatten zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt zu finden und Aussagen auf ihre Konsistenz zu überprüfen. Diese Fähigkeit sowie die Bereitschaft, dem Gegenüber mit Anerkennung und Respekt begegnen und aufrichtig offen für einen Dialog auf Augenhöhe zu sein, ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Straight Allyship, für die wir uns bei WELCOMING OUT besonders einsetzen.
Straight Allies, also heterosexuelle (cisgeschlechtliche) Verbündete, sind Menschen, die zwar nicht Teil der queeren Community sind, sich aber für deren Belange und eine Gleichbehandlung einsetzen. Straight Allyship setzt daher auch eine Reflexion der eigenen Haltung voraus. Wie ist meine Einstellung zu queeren Menschen wirklich? Bin ich eventuell einigen der oben genannten falschen Prämissen auch schon mal aufgesessen? Diese Fragen mit sich selbst auszumachen und die eigene Einstellung zu klären, kann sehr aufschlussreich sein. Hierbei können Perspektivwechsel sehr helfen.
Sich in die Lage des Gegenübers versetzen
Eine beliebte Frage, die uns in unseren Diversity-Trainings immer wieder begegnet, ist: Welche Rolle spielt sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität eigentlich im Job? Oder: Warum müssen sich queere Menschen immerzu outen? Heterosexuelle Menschen würden das doch auch nicht tun. Hier wäre ein solcher Perspektivwechsel für heterosexuelle Menschen beispielsweise, sich mal eine Woche vorzustellen, man sei in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung und möchte dies auf der Arbeit geheim halten. Oder mal eine Woche zu versuchen, jegliche Unterhaltungen über das Privatleben im Jobkontext zu vermeiden. Wer das eine Woche durchzieht, wird merken, warum das Thema auch im Job eine große Relevanz hat. Ein weiterer Schritt hin zum Straight Ally.
Sich darin zu üben, diese falschen Prämissen bei sich oder in der Argumentation von anderen aufzuspüren und sie dann aufzulösen, ist etwas, was unglaublich wichtig und kraftvoll auf dem Weg zu wirklicher Akzeptanz und Gleichbehandlung von queeren Menschen ist. Denn es hilft dabei, das, was tatsächlich ist, klarer wahrzunehmen und abwertende Erzählungen nicht zu reproduzieren.
Ein Aufruf zur Empathie und Unterstützung
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt: die Verantwortung von Organisationen, deren daily business Kommunikation, Marketing und Medien sind. Denn hier agiert nicht nur eine einzelne Person mit einer anderen. Mit der Reichweite wächst auch die Verantwortung, die Botschaften, die transportiert werden, auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Liegt diesen Botschaften möglicherweise eine falsche Prämisse zugrunde und sind sie deswegen sogar latent menschenfeindlich? Werden sie möglicherweise reproduziert und ggf. durch die Reichweite verstärkt?
Genauso birgt dieses Tätigkeitsfeld aber auch große Möglichkeiten: Denn natürlich können mit dieser Reichweite gängige Vorurteile, die auf falschen Prämissen basieren, adressiert und aufgelöst und stattdessen Botschaften verbreitet werden, die nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen. Das ist etwas, was CROSSMEDIA als eine der unterstützenden Organisationen von WELCOMING OUT bereits tut.
Ich möchte deshalb alle Lesenden einladen, sich das hier Geschriebene zu Herzen zu nehmen und für sich allein oder auch im Jobkontext mit anderen umzusetzen. Warum ihr das tun solltet? Nun ja, auch hier hilft wieder ein Perspektivwechsel. Vielleicht habt auch ihr Menschen in eurem Umfeld, die euch viel bedeuten, von denen ihr gar nicht wisst, ob eure Erwartung an ihre Identität auch der Realität entspricht, weil sie eventuell noch vor ihrem Coming-out stehen. Mit eurem WELCOMING OUT und in der Folge eurem Straight Allyship helft ihr diesen nicht-geouteten queeren Menschen dabei, angstfrei zu ihrem wahren, vollumfänglichen Selbst stehen zu können. Kann es etwas Schöneres geben, das man für eine geschätzte Person tun kann?
Was denkst du?