Wie sieht das Thema Fachkräftemangel eigentlich in anderen Ländern aus? Unsere beiden Geschäftsführenden Ali Plonchak (USA) und Sebastian Schichtel (Deutschland) haben sich unterhalten und festgestellt: Alle stehen vor den gleichen Problemen – und ein Kernpunkt des Dilemmas sind unterschiedliche Ansichten über den Wertbeitrag, den Agenturen leisten können.
In den englischsprachigen Ländern nennt man sie die „Great Resignation“ – übersetzt ein Wortspiel aus „kündigen“ und „aufgeben“. Gemeint ist die Krise, in der die Werbebranche hinsichtlich ihres Fachkräftemangels steckt. Vieles davon ist als direkte Auswirkung der Covid-19-Pandemie zu betrachten. Wir sind allerdings der Meinung, dass das Thema in einen breiteren Kontext eingebettet werden muss, der die strukturellen Gründe, die zu der derzeitigen Situation geführt haben, genauer unter die Lupe nimmt. Nur so lässt sich einer nachhaltigen Lösung näherkommen – für Agenturen und für ihre Kunden.
Die Pandemie ist der Beschleuniger, nicht die Ursache für unsere derzeitige Situation. Die Wahrheit ist, dass in den Agenturfluren auf beiden Seiten des Atlantiks schon länger eine gewisse Unzufriedenheit und Desillusionierung zu spüren sind.
Überspitzt gesagt liegt ein zentrales Problem darin, dass sich Agenturen und Kunden wieder stärker auf das Wertversprechen von Agenturen einigen müssen. Agenturen haben als strategische Partner der CMOs an Boden verloren, was sich auf die Art der Arbeit, die sie leisten sollen und ihre Vergütung auswirkt. Das wiederum beeinträchtigt ihre Fähigkeit, Talente zufrieden, ambitioniert bzw. überhaupt an Bord zu halten.
Marketing der Mikro-Optimierungen
In den letzten zehn Jahren, in denen Marken die digitale Transformation in Angriff genommen haben, haben sich Marketingabteilungen mit einem Grad an Komplexität konfrontiert gesehen, der sie herausgefordert und teilweise sogar überfordert hat. Der Schwerpunkt hat sich nach und nach verlagert: vom Brand-Marketing hin zu einem Marketing der Mikro-Optimierungen, das oft das „Big Picture“ des Markenerfolgs außer Acht lässt. Die Auswirkungen, die dieser Wandel auf die Personalstruktur von Unternehmen und Agenturen hat, sind gravierend, erfordern sie nicht zuletzt einen höheren Einsatz von Ressourcen für das mühsame Justieren von Schiebereglern.
Die erfolgreichsten Agentur-Kunden-Beziehungen, nämlich solche, bei denen sich die beteiligten Menschen erfüllt und zufrieden fühlen, beruhen auf der gemeinsamen Überzeugung, dass Media einen wichtigen Beitrag zum ganzheitlichen Erfolg einer Marke leistet. Um Mitarbeitende zufrieden zu stellen, ist es wichtig, ihnen zu verdeutlichen, wie das, was sie tun, zu einem großen Ganzen beiträgt. Agenturchefs und Kunden müssen (vor allem im digitalen Bereich) ein Gleichgewicht finden zwischen dem, was bedeut- und wirksam aus Markensicht ist, und kurzfristigen Erfolgen, die Gefahr laufen, sich zu einem schwarzen Loch von Mikro-Optimierungen zu entwickeln.
Wenn der Wert der Arbeit nicht mehr motiviert
Die oben beschriebenen Veränderungen haben dazu geführt, dass der Wert der Arbeit, den Agenturen erbringen, in den Augen der Procurement-Abteilungen von Markenunternehmen abnimmt – was wiederum zu einem steigenden Druck auf die Vergütung von Agenturen führt.
Auf einem kürzlich veranstalteten Webinar gab Raja Rajamannar, Chief Marketing & Communications Officer bei Mastercard, zu bedenken: „Die Vergütung muss für den Agenturpartner motivierend und inspirierend sein. Es geht nicht nur um Effizienz und darum, an möglichst vielen Stellschrauben zu drehen…. Wir wollen, dass sie [die Agenturen] mit innovativen Ideen und fantastischen Media-Deals aufwarten… Einer der größten Fehler, den Marken machen können, ist, ihre Agenturen zu erpressen…“
Der Weg nach vorn: Das Wertversprechen von Mediaagenturen
Aus unserer Sicht liegt ein Teil der Lösung für das Dilemma der „Great Resignation“ in der Notwenigkeit, das Wertversprechens von Mediaagenturen gemeinsam mit ihren Kunden neu zu bewerten. Wir müssen wieder als selbstbewusste, nachhaltige Treiber von Markenerfolg wahrgenommen werden. Denn in diesem Selbstverständnis liegt für alle Beteiligten ein ganz großer Zufriedenheitshebel.
Ein paar Gedanken zum „wie“:
- Machen Sie Media zu einer Mission
Definieren Sie in Zusammenarbeit mit dem Kunden das Makroziel. Worauf wird jeder, vom CMO bis zum Juniorberater, in 18 Monaten stolz sein? Schaffen Sie den Rahmen, um dieses Ziel zu erreichen. - Explizite Erwartungen
Agenturen und Kunden müssen ehrliche Gespräche über die Art und Weise ihrer Zusammenarbeit führen. Wird von der Agentur erwartet, dass sie rund um die Uhr zur Verfügung steht? Wenn ja, sollte dies offen angesprochen werden, damit das Team entsprechend strukturiert werden kann – insbesondere in der heutigen hybriden, globalen Arbeitswelt, in der Zeitzonen überbrückt werden können. Die Unzufriedenheit von Agenturmitarbeitenden ist oft ein Ergebnis der sich ständig ändernden Kundenerwartungen, die direkte Auswirkungen auf ihr (Privat-)Leben hat. - Strategische Struktur
Das Arbeitspensum, das Agenturen unter dem Schlagwort „Prozesse“ schultern, nimmt durch datengesteuertes Marketing immer weiter zu. Agenturen müssen heute weitaus mehr operatives und technisches Personal einstellen, um eine Daten-Infrastruktur aufzubauen, sie am Laufen zu halten und ständig zu optimieren. All das heißt, dass wir kontinuierlich evaluieren müssen, wie sich Arbeitsprozesse so organisieren lassen, dass Planer und Strategen sich auf die Arbeit konzentrieren können, die sie inspiriert und begeistert. Gleichzeitig müssen Agenturen neue Arbeitsbereiche und Strukturen schaffen, mit denen sie für ein breiteres Feld an Fachkräften als nur für die nächsten Don und Donna Drapers attraktiv werden. - Postpandemisches Arbeitsmodell
Sushitaxi und Bierwagen, Kickertische und coole Büroräume waren vor zehn Jahren ausreichend. Wenn wir eine lebendige, nachhaltige Kultur aufbauen wollen, die die Basis für echte Gemeinschaft mit möglichst geringer Fluktuation bildet, dann müssen wir Menschen die Flexibilität geben, selbst zu entscheiden, wo sie arbeiten wollen, wie lange sie arbeiten wollen und wann sie arbeiten wollen. Mit dieser großen Freiheit geht eine große Verantwortung einher. Vertrauen und ein aufrichtiges Maß an Empathie für individuelle Ziele führen aber zu größerer Loyalität und höherer Produktivität.
Wenn wir diese Grundsätze nicht nur Lippenbekenntnisse sein lassen, dann haben wir die Chance, dem Agenturleben seinen Glanz zurückzugeben. Agenturen müssen sich ihren Platz an der strategischen und kreativen Spitze des Marketingkosmos zurückerobern. Zusammen mit einem Bekenntnis zu mehr Diversity, Equality und Inklusion können wir auch neue Generationen für unsere Branche begeistern.
Dieser Artikel erschien erstmals am 30.03.2022 auf Advertising Week.
Foto Credit: Annie Spratt (Unsplash)
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