Ausgerechnet die Talentkrise könnte den Ausschreibungswahnsinn beenden, sagt CROSSMEDIA Geschäftsführer Sebastian Schichtel. Was hinter dieser steilen These steckt und warum sich dadurch die Beziehung zwischen Kunden und Agenturen verbessern könnte, beschreibt er in diesem Beitrag.
Selber hören macht schlau. Hier gibt’s den Artikel als reine Audiospur:
Vor rund 15 Jahren entschloss ich mich, der Klimatologie den Rücken zu kehren (Spoiler: es wird wärmer!) und mein berufliches Glück in der Werbeindustrie zu suchen. Seitdem begleiten mich auf meinem Weg zwei Konstanten: der stetige Wandel und das Wehklagen der Agenturen über die branchenüblichen Ausschreibungsprozesse.
Letzteres scheint mittlerweile fast schon zur Folklore der Branche zu gehören und das, obwohl auch Pitches und die zugehörigen Ausschreibungsprozesse sich über die Zeit immer wieder verändert haben. Jedoch nicht nur zum Besseren. Denn einer durchaus wahrnehmbaren Professionalisierung auf Seiten der Werbetreibenden und deren Beratern stehen immer weiterwachsende Aufwände auf Agenturseite gegenüber. Markterkundungen, RFIs, Chemistry Meetings, Tool & Tech-Sessions, Workshops, RFPs, Konditionen- und Vertragsverhandlungen können nur in Teilen sichtbarmachen, welche enormen Aufwände und damit auch Kosten auf Agenturseite im Rahmen eines ganz normalen Pitch-Prozesses geschultert werden müssen. Müßig dabei zu erwähnen, dass dies in der Regel weiterhin ohne nennenswertes Honorar, welches den Aufwand auch nur ansatzweise fair reflektiert, erfolgt – dem selbst auferlegtem Code-of-Conduct von OWM und OMG zum Trotz.
Doch damit könnte nun bald Schluss sein, denn ausgerechnet die Talentkrise schickt sich an, dem Pitch-Wahnsinn ein jähes Ende zu bereiten.
Vom Nachfrage- zum Anbietermarkt
Steile These? Stimmt, doch hinter dem schamlosen Clickbaiting steckt auch ein wahrer Kern, welcher die Auswirkungen der aktuellen Personalknappheit auf unseren Markt und die Kunden-Agenturen-Beziehungen beschreibt.
Agenturen kämpfen heute, wie alle anderen Marktteilnehmer auch, mit knappen Ressourcen. Die Verfügbarkeit von Talenten wird so nicht nur zum Wettbewerbsfaktor, sondern zunehmend auch zu einer limitierenden Größe im Hinblick auf das Unternehmenswachstum. Bei steigenden Gehalts- und Overhead-Kosten zwingt dies Agenturen notwendigerweise, ihre vorhandenen Ressourcen gewinnmaximierend und strategisch langfristig zu allokieren. Nichts Neues, aber Agenturen müssen heute genauer denn je abwägen, für welche Pitches und für welche Kunden sie ihre Ressourcen einsetzen wollen. Im Ergebnis beschreibt dies einen Paradigmenwechsel: nämlich den Wandel von einem Nachfrage- zu einem Anbietermarkt. Zugegebenermaßen: Dies gilt natürlich nicht für sämtliche Ausschreibungen, aber gerade für kleinere und mittlere Werbeetats scheint mir dies gegenwärtig eine gültige Bestandsaufnahme zu sein.
Die ersten sichtbaren Anzeichen dafür lassen sich auch bereits bei diversen Pitches beobachten. So bekommen Pitch-Berater das illustre Teilnehmerfeld mitunter nur noch mühsam gefüllt – manchmal sogar gar nicht. Und auch mit Blick auf Timings und Prozessschritte werden die Rahmenbedingungen immer häufiger von den Agenturen selbst vorgegeben. Es hat sich also etwas verändert.
Doch was bedeuten diese Entwicklungen für die Beziehung zwischen Werbetreibenden und Agenturen?
Zum einen werden Agenturen zukünftig ihre bestehenden und die sich anbahnenden Kundenbeziehungen noch kritischer auf den Prüfstand stellen müssen. Die Zeiten, in denen Agenturen Jobs zu fast allen Bedingungen angenommen haben, dürften erstmal der Vergangenheit angehören – schlichtweg auch deshalb, weil sie es nicht mehr können (Personalmangel) oder wollen. Denn auch in puncto Work-Life-Balance, Flexibilität und fairen Überstundenregelungen hat sich in Agenturen einiges getan und kaum eine Agentur ist mehr bereit, für einen halsbrecherischen Auftrag zu zweifelhaften Konditionen ihre Leute zu verheizen.
Langfristigere Zusammenarbeit kommt Businesszielen zugute
Zum anderen öffnet die aktuelle Entwicklung Chancen für eine langfristigere und engere Zusammenarbeit. Wer heute als Kunde über ein funktionierendes Agentur-Setup verfügt, der sollte genau prüfen, ob eine Veränderung tatsächlich mehr Chancen als Risiken mit sich bringt. Dies gilt im Übrigen genauso für die Agenturseite. Im Optimalfall fördert die Entwicklung somit ein Mehr an langfristigen und partnerschaftlichen Kunde-Agentur-Beziehungen. Und diese waren schon immer der Nährboden für offene und integrative Kollaboration, welche für die Erreichung von nachhaltigen Businesszielen unabdingbar ist. In Zeiten, in denen zu oft die kurzfristige Taktik über die langfristige Strategie siegt und Agenturpartner wie Tools zur Erfüllung von Proxy-KPIS eingesetzt werden, mag dies einen durchaus hoffnungsvoll stimmen.
Die Talentkrise wird uns (nicht zuletzt, weil auch die Boomer nach und nach die Füße hochlegen) noch lange erhalten bleiben und sie wird die Beziehungen zwischen Agenturen und Werbetreibenden nachhaltig verändern. Zumindest mit Blick auf den gegenwärtigen Pitch-Wahnsinn kann dies aber eigentlich nur eine positive Nachricht sein.
Dieser Artikel ist zuerst am 27.07.2022 auf horizont.net erschienen.
Foto Credit: Izz R (Unsplash)
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