2023
Jedes Jahr folgt die Branche dem Ruf der Croisette, wenn im Palais des Festivals das Cannes Lions International Festival of Creativity stattfindet. Aber haben der Glanz und Glamour von Cannes noch Platz in einer Zeit, in der wir mit ernsthaften sozioökonomischen Veränderungen konfrontiert sind? Filipe Gouveia, Global Account Director bei CROSSMEDIA London, teilt seine Eindrücke nach der Teilnahme am renommiertesten Werbepreis der Welt.
Letzte Woche hatte ich das Glück, an die Côte d’Azur zu jetten (bzw. mit der Bahn gen Sonne zu rollen, für den CO2-Fußabdruck), um das Cannes Lions International Festival of Creativity zu besuchen. Jedes Jahr versammelt sich die Werbebranche zu dieser einwöchigen Party, um die crème de la crème kreativer Arbeit zu feiern, vollgepackt mit inspirierenden Gesprächen und angeheizt durch Unmengen von Content, Networking und Rosé. Die gezeigten Arbeiten sind von höchstem Niveau und bieten eine fantastische Gelegenheit, Inspiration für das eigenes Handwerk zu sammeln.
Während des Festivals verwandelt sich die Uferpromenade des Boulevard de la Croisette in eine Reihe von Strandbars, an denen Agenturen, Media Owner, Ad-Tech-Unternehmen und viele andere ihre eigenen Stände aufbauen. Zehntausende kommen hier zusammen, um über die Zukunft der Branche, aber auch ihre Probleme und wie man sie verbessern und sinnvoller gestalten kann, zu diskutieren. Die Fülle an Inhalten, die sich einem hier bietet, ist überwältigend, daher empfiehlt es sich, bereits im Vorfeld, eine Auswahl zu treffen.
Das ist der Moment, in dem FOMO die Oberhand gewinnt, aber wer versucht, hier alles zu sehen, braucht Ausdauer – ich habe an den vier Tagen, die ich auf dem Festival verbracht habe, durchschnittlich 22.000 Schritte pro Tag gemacht, so viele wie jemand, der einen Halbmarathon läuft. Wer fit genug ist, kann zusätzlich auch das umfangreiche Angebot der Bars und abendlichen Parties nutzen, denn an Drinks mangelt es in Cannes sicher nicht.
Klingt ausschweifend und extravagant? Das liegt wahrscheinlich dran, dass es das auch ist. Und genau das ist auch der Grund dafür, warum Cannes gleichermaßen inspirierend wie umstritten ist. Jahr für Jahr diskutiert die Branche darüber, ob das Festival genug Mehrwert bietet, um seine Existenz zu rechtfertigen. Delegiertenpässe sind teuer, und Unternehmen geben viel Geld aus, um dabei zu sein. In der derzeitigen Lebenshaltungskostenkrise wirft dies sicherlich einige Fragen auf.
Meiner Meinung nach hat die Veranstaltung jedoch enormen Mehrwert. Cannes ermöglicht tiefgreifende und sinnvolle Debatten, biete tolle Möglichkeiten zum Netzwerken, und sich hier so intensiv mit den besten Arbeiten und Köpfen der Branche auseinanderzusetzen, ist unfassbar inspirierend. Wer hier ist, spürt unweigerlich Stolz, Teil der Kreativbranche zu sein. Aber natürlich ist in Cannes nicht alles perfekt, und es gibt sicherlich vieles, was verbesserungswürdig ist. Ich habe versucht, meine persönlichen Hits und Misses aus Cannes zusammenzufassen:
Fünf Dinge, die Cannes wertvoll machen
- Großartige Arbeit sollte gefeiert werden
Es ist unbestreitbar, dass die in Cannes gezeigten Arbeiten immer herausragend sind. Das handwerkliche Niveau, das dort gezeigt wird, ist unübertroffen und setzt den Standard, den die gesamte Branche anstreben sollte. Dieses Jahr bildete keine Ausnahme, und wir haben einige erstaunliche Kampagnen gesehen, die ihre verdienten Auszeichnungen mit nach Hause nehmen konnten, wie z. B. Where to Settle, The Life Collection, Knock Knock, The Last Photo, A British Original oder Turn Your Back (um nur einige zu nennen). Das sind Arbeiten, die Wirkung zeigen und die Grenzen der Kreativität verschieben. Und solch großartige Arbeit verdient es, gefeiert werden.
- Cannes bieten der gesamten Branche Inspiration
Und das auf mehreren Ebenen. Die preisgekrönten Cases, die Vorträge, die Gespräche – all das ist inspirierend, ganz gleich, ob man gerade erst in die Branche eingestiegen ist oder bereits fest im Sattel sitzt. Natürlich versetzt einen nicht alles Ehrfurcht, aber insbesondere die Sitzungen, die den Delegierten vorbehalten sind, sind fantastisch. Besonders gut gefallen haben mir das sehr offene Interview mit Susan Hoffman von W+K, Paula Bloodworth, Rob Campbell und Martin Weigels Vortrag „Strategy Is Constipated, Imagination Is the Laxative“ sowie die gesamte Vortragsreihe des WARC.
- Cannes bringt die Branche zusammen
Das Festival gibt einem das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Es verdeutlicht, dass unsere Arbeit einen tieferen Sinn hat und für unsere Kunden von großem Wert ist. Cannes fördert Connections auf allen Ebenen – es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Junior hier ein dreistündiges, bedeutsames Gespräch mit einem sehr viel seniorigeren Branchenkollegen führt.
- Cannes bietet einen Raum für offene Debatten
Die große Menge an Panels und Vorträgen führt dazu, dass hier die notwendigen Gespräche über die Richtung, in die sich die Branche entwickeln sollte, stattfinden. Cannes bietet eine fantastische Bühne, um wichtige Themen zu diskutieren – besonders beeindruckt hat mich, wie sehr das Festival dazu beiträgt, die Diskussion um DE&I voranzutreiben und diese Agenda zu pushen. Und es war ebenso erfrischend zu sehen, dass eine Organisation wie Extinction Rebellion eingeladen wurde, um bei Cannes im Rampenlicht zu stehen.
- Cannes macht Spaß. Und dafür muss man sich nicht schämen.
Die Werbebranche steht nicht zuletzt für Spaß. Wir alle arbeiten hart und versuchen jeden Tag, das Beste für unsere Kunden zu tun. In Konsequenz auch mal Spaß zu haben, ist absolut in Ordnung. Ich finde, das haben wir verdient.
Fünf Dinge, die Cannes besser machen könnte
- Die Veranstaltung für alle zugänglich machen
Manchmal fühlt sich Cannes wie ein Private Members Club an – man sieht dort vor allem seniorige Semester, die das Festival mit all seinen Angeboten genießen, dabei wären es gerade die Jüngeren, die enorm von der Inspiration profitieren würden, die sie aus der Teilnahme an dieser Veranstaltung mitnehmen könnten. Aber Cannes ist teuer. Unternehmen sollten sich bemühen, das Festival für alle zugänglich zu machen – die Tickets sind für junge Teilnehmende sogar vergünstigt. Die Organisatoren könnten sich derweil überlegen, wie sie ihren Beitrag leisten können – warum nicht Deals mit den Hotels in Cannes aushandeln, um jüngeren Leuten ermäßigte Preise anzubieten?
- Über Nachhaltigkeit zu reden, reicht nicht aus
Nachhaltigkeit ist eins der Buzzwords, die omnipräsent sind. Cannes ist da keine Ausnahme. Aber Worte reichen nicht aus – wenn die Branche es ernst meint, muss sie Taten folgen lassen. Ja, es gibt einige Initiativen, aber im Großen und Ganzen ist Nachhaltigkeit in Cannes eine Nebensache. Was mich schockiert hat, waren die riesige Menge an Werbeartikeln, die verteilt wurden und von denen die meisten wahrscheinlich auf der örtlichen Mülldeponie landen werden.
- Viele Inhalte bedeuten nicht gleich gute Inhalte
Wie ich bereits erwähnt habe, gibt es eine Fülle von Inhalten, die wirklich inspirierend sind, vor allem auf dem Festivalgelände – seien es Vorträge, Panels, Workshops oder Preisverleihungen. Aber ein großer Teil der Angebote fühlte sich auch unnötig an – sich wiederholende Themen (ja, KI, ich meine dich), viel Banales und keine provokativen Diskussionen. Außerdem war die schiere Masse überwältigend – wie entscheidet man, was man besuchen sollte und was nicht? Ich hoffe, dass Cannes nächstes Jahr mehr Wert auf Qualität als auf Quantität legt.
- Media braucht eine Bühne
Kreativität ist bei Cannes talk of the town, aber warum wird dieses Attribut eigentlich nur Kreativagenturen zugesprochen? Ich würde mir wünschen, dass mehr darüber gesprochen wird, wie die passende Mediastrategie ein gutes Kreativkonzept in eine großartige Kampagne verwandelt hat. Über die einzigartige Medianplatzierung, die allen die Kinnlade herunterfallen ließ. Oder über die erstaunliche Kampagne, bei der das Medium die Message war.
- Mehr Platz für Indies
Unabhängige Agenturen schaffen es immer wieder, entsprechenden Auszeichnungen für ihre großartige Arbeit einzuheimsen. Aber wenn man durch Cannes schlendert, könnte man meinen, das Festival sei ausschließlich für die großen Tech- und Netzwerk-Agenturgruppen. Abgesehen von ein paar kleinen Veranstaltungen gibt es nur sehr wenig von unabhängigen Agenturen zu sehen. Ich hoffe, dass sich das Zukunft ändert und mehr Indies eine Stimme bei Cannes bekommen!
Was denkst du?