Nie war die Media-Werkzeugkiste praller gefüllt als heute. Nie war der potenzielle Wertbeitrag von Media zur Erreichung strategischer Unternehmensziele größer. Und dennoch findet sich so manche Mediaabteilung und Agentur am Katzentisch der Kommunikationsplanung wieder – reduziert zur Media-Schlachterei, in der Kampagnen im Akkord entbeint werden. Warum eigentlich, fragt sich CROSSMEDIA Geschäftsführer Sebastian Schichtel. Ein Erklärungsversuch.
Vielleicht ist Albert Einstein der bekannteste Wissenschaftler, den dieser Planet je gesehen hat. Sicher ist, dass der gebürtige Ulmer weite Teile seines Lebens damit verbracht hat, komplexe physikalische Zusammenhänge nachzuweisen und messbar zu machen. Mit großem Erfolg, wie wir heute wissen. Und dennoch waren auch Einstein die Grenzen der Messbarkeit nur allzu bewusst. „Nicht alles, was zählbar ist, zählt. Und nicht alles, was zählt, ist zählbar“, sagte er einmal. Ein Satz, der heute für Marketing- und Mediaentscheider aktueller und bedeutender sein dürfte als jemals zuvor, stehen doch viele Marken am Scheideweg zwischen langfristigem Erfolg und dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit in einer digitalisierten und fragmentierten (Konsum-)Gesellschaft. Doch was ist eigentlich passiert und welche Rolle spielt die Messbarkeit dabei?
Die unerträgliche Leichtigkeit der Messung
Schon immer gab es diese große Sehnsucht des Werbers nach der Kontrollierbarkeit der eigenen Werbemaßnahmen. Jene Sehnsucht, genau zu wissen, welche Wirkung mit einer Werbeanzeige erzielt wurde und wie viel Umsatz eine bestimmte Maßnahme in die Unternehmenskasse gespült hat.
Durch den Siegeszug des digitalen Marketings und der digitalen Mediakanäle wähnt sich heute so mancher Marketer und Mediaentscheider am Ziel seiner Träume. Endlich scheint Transparenz darüber zu herrschen, welchen Beitrag die einzelnen Maßnahmen geleistet haben. Jede verkaufte Hose, jedes gebuchte Flugticket und jeder eingelöste Rabattcode lässt sich vermeintlich eindeutig zuordnen. Die schlimmen Zeiten, in denen Henry Ford ahnungslos im Dunkeln tappte und nicht wusste, welcher Teil seiner Werbeinvestitionen verschleudertes Geld waren, scheinen endlich der Vergangenheit anzugehören.
Entsprechend wird fröhlich und umfänglich gemessen, frei nach dem neuen Mantra „Metio, ergo sum“ – „Ich messe, also bin ich“. Zugegeben, die Möglichkeiten zur Erfolgsmessung der Werbemaßnahmen sind heute größer denn je. Auch sind die Einstiegshürden für das Werbetracking gesunken. Heute braucht es keine großen und kostenintensiven Research-Abteilungen mehr, um kurzfristige Brand-Effekte oder erzielte Umsätze einer Kampagne mitzuerfassen. Agenturen weisen heute den scheinbar genauen Wertbeitrag ihrer Kampagnen aus, Medien dokumentieren die Wirksamkeit ihrer Umfelder und das Marketing stellt den erzielten Umsatz zentral dem internen Revenue-Management zur Verfügung. Schöne neue Werbewelt sollte man meinen. Doch in der Fokussierung auf kurzfristig messbare Ergebnisse und deren Optimierung lauert auch eine Gefahr für Marken und deren langfristigen Markterfolg.
Short-Termism ist des Wachstums Tod
Was nicht messbar ist, ist auch nicht. So kommt es einem bisweilen fast vor, wenn man einen Blick in die Kommunikationspläne mancher Marketing- und Mediaentscheider wirft. Doch in der Fokussierung auf kurzfristig messbares Zahlenwerk stecken gleich mehrere Stolperfallen für Unternehmen und deren Kommunikationsplanung.
Ein Problem liegt in den Zahlen selbst. So werden nur allzu bereitwillig die Augen davor verschlossen, dass die Messbarkeit der meist digitalen Maßnahmen gar nicht so umfassend ist, wie es gerne von der Branche postuliert wird. Tatsächlich hat sich die unabhängige technische Messbarkeit in den letzten Jahren sogar eher verschlechtert. Die Einschränkungen rund um Apples Intelligent Tracking Prevention, das Update von iOS 14.5 oder das nahende Ende des 3rd Party Cookies mit all seinen vorhersehbaren Auswirkungen auf die verursachergerechte Attribution stehen beispielhaft für diese Entwicklung.
In der Folge werden die eigenen Aktivitäten also maximal auf einen kleinen Teil der kurzfristig dokumentierbaren Wirkung hin optimiert. Nicht selten mit der Konsequenz, dass die Login-basierten Ökosysteme der Walled Gardens als Gewinner aus dieser scheinbar objektiven Plan-Optimierung hervorgehen.
Ungleich größeres Ungemach droht jedoch an anderer Stelle. Wie bei einem Eisberg bleiben weite Teile der Werbewirkung bei der kurzfristigen Wirkungsanalyse unsichtbar unter der Datenoberfläche verborgen. Das wäre erst mal gar nicht weiter tragisch, könnte man von den kurzfristig messbaren Wirkungseffekten auf die langfristigen Wirkungszusammenhänge schließen. Doch das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Studien wie beispielsweise „Media in Focus – Marketing effectiveness in the digital“ von Binnet/Field zeigen eindrucksvoll, dass mit der Fokussierung auf kurzfristige Messmetriken konsequent am langfristigen Wachstum und damit am Markterfolg der Marke vorbeioptimiert wird.
Ursächlich hierfür ist die Tatsache, dass die Treiber für kurzfristigen Impact gänzlich andere sind als jene für langfristige Wirkungseffekte. Eine häufig verwendete Kennziffer wie der ROI beispielsweise verfügt nur über eine sehr niedrige Korrelation zum langfristigen Wachstum einer Marke. Ebenso verfällt es sich mit seinem Bezug zu Marktanteilsgewinnen oder der Markenloyalität. Er ist folglich ein Messwert, der als richtungsweisender Indikator für langfristiges, nachhaltiges Wachstum gänzlich ungeeignet ist.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Kurzfristig wirkende Mediamaßnahmen haben selbstverständlich ihre Berechtigung und sind ein probates Mittel, existierenden Demand in die eigenen Vertriebskanäle zu lenken. Ebenso ist es unzweifelhaft richtig, Mediaentscheidungen datenbasiert zu treffen. Wichtig dabei ist jedoch, immer zu verstehen, was die im Hochglanz-Dashboard aggregierten Daten einem tatsächlich sagen – und vor allem auch, was sie einem NICHT sagen. Nur so können sinnvolle Entscheidungen getroffen werden, mit denen Unternehmen ihre kurzfristigen Ziele erreichen können, ohne dabei den langfristigen Markterfolg aus dem Blick zu verlieren. Doch leider passiert genau dies oftmals nicht.
Das System befeuert sich selbst
Nun stellt man sich unweigerlich die Frage, wie es denn sein kann, dass trotz dieser gesicherten Erkenntnisse rund um Werbewirkungszusammenhänge der Weg des Short-Termism vielfach völlig unbeirrt weiter beschritten wird und Marken sich weiter munter ihr eigenes Grab schaufeln. Schließlich sind die entsprechenden Wirkungsstudien nicht neu und zahlreiche Werbetreibende kämpfen parallel mit sinkenden Markenwerten, geringerer Kampagneneffektivität und abnehmender Markenloyalität – allen Verheißungen des datengetriebenen und kundenzentrierten Marketings zum Trotz.
Um dies zu verstehen, lohnt ein Blick auf die externen und internen Einflussfaktoren, denen sich Marketing und Media ausgesetzt sehen. Da ist zum einen der Druck, kurzfristige Umsätze erzielen zu müssen. Das war natürlich schon immer so, gilt aber für börsennotierte Unternehmen mit entsprechenden Quartalsmeldungen noch mal im besonderen Maß. Ob börsennotiert oder nicht, gemein haben die Unternehmen aber oftmals eine verkürzte Perspektive auf die Rolle und Funktion von Marketing und Media für die Unternehmensziele. Kommunikation wird allzu oft nur als Kostenstelle und Hebel für kurzfristige Umsätze gesehen, nicht aber als langfristige Investition und nachhaltiger Wachstumsmotor für das Unternehmen. So mag es wenig verwundern, dass laut einer Umfrage unter US CMOs rund 70% der Zeit damit verbracht wird, die kurzfristige Gegenwart zu managen, statt Zukunft zu gestalten. Bonusregelungen, die vor allem schnell messbare Erfolge honorieren, tun da sicher nochmals ihr übriges.
Eine weitere Ursache, warum die Branche sich so schwer damit tut, den Short-Termism zu überwinden, liegt in den Strukturen der Zusammenarbeit begründet – sowohl intern als auch im Zusammenspiel mit externen Partnern. Mit der Digitalisierung sind gänzlich neue Vertriebswege, neue Kommunikationskanäle und neue Datenpools entstanden. Um diese für die eigenen Ziele nutzbar zu machen, setzen Unternehmen auch auf die Einbindung externer Partner. Durchaus nachvollziehbar, schließlich haben Mediaagenturen hochspezialisierte Teams aufgebaut, um genau diesen neuen Anforderungen auf Kundenseite gerecht zu werden.
Neue Silos versperren den Weg zum langfristigen Unternehmenserfolg
Heute versuchen viele Unternehmen wieder, mehr Kontrolle über ihre eigenen Daten und die Kundenkommunikation zurückzuerlangen, liegt hierin doch ein strategischer Baustein für den langfristigen Unternehmenserfolg. Mit dem In-Housing von Kompetenzen geht aber auch die zunehmende Tendenz einher, taktische Rollen innerhalb des Marketings bzw. innerhalb der Mediaabteilungen der Unternehmen zu vergeben. Waren früher die Verantwortlichen für Media im Unternehmen noch für die gesamte Kommunikationssteuerung verantwortlich, so gibt es heute eine Vielzahl an Spezialisten, die eigens für die Steuerung und Umsetzung bestimmter Kanäle verantwortlich sind.
Das ist erst mal für sich genommen gar nicht weiter kritikwürdig, schließlich hat sich die Komplexität von Media im letzten Jahrzehnt massiv erhöht und macht den Einsatz hochspezialisierter Mitarbeiter erforderlich. Dennoch können sich hieraus auch nachteilige Effekte ergeben, welche die Implementierung einer langfristigen und nachhaltigen Kommunikationsstrategie erschweren und den Short-Termism weiter befeuern.
Dies ist immer dann der Fall, wenn die neu geschaffenen Einheiten und Positionen nicht ganzheitlich im Unternehmen eingebunden werden, sondern als eigene Media-Silos auf Unternehmensseite agieren. In diesen Fällen wird die Rolle von Media oftmals rein taktisch interpretiert und bleibt ohne jede strategische Anbindung an andere Unternehmenseinheiten wie Brand Marketing, Enterprise Analytics oder Content Production. Diese reduzierte Perspektive auf Media als taktisches Sales-Instrument verstärkt sich oft noch im Zusammenspiel mit externen Partnern, da Agenturen die Strukturen auf Unternehmensseite vielfach spiegeln (müssen).
So kann es wenig verwundern, dass die übergreifenden Teams aus Spezialisten zuerst nach Lösungen innerhalb des eigenen Kanals bzw. des eigenen taktischen Aufgabenfeldes suchen. Im Ergebnis mit allzu vorhersehbaren Antworten, welche leider nur selten über die rein taktische Mikrooptimierung der eigenen Maßnahmen hinauskommen. Langfristige Unternehmensziele spielen bei den Überlegungen oftmals nur eine nachgelagerte Rolle.
„Short-Termism und neue Inhouse-Silos reduzieren Agenturen zu Media-Schlachtereien, in denen Kampagnen im Akkord entbeint werden.“
So lautet der Leitgedanke meist „Mache ich die Dinge richtig?“, statt zu fragen „Mache ich die richtigen Dinge?“. Genau hierin liegt aber der entscheidende Unterschied zwischen Media als taktischem Vertriebsinstrument und Media als strategischem Wachstumsmotor für das gesamte Unternehmen. Mit den Möglichkeiten des modernen, datengetriebenen Marketings kann Media zweifelsfrei einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der langfristigen und nachhaltigen Unternehmensziele leisten.
Nie standen der Media hierfür mehr Insights, mehr Analysen und mehr Kanäle und Werkzeuge zur Verfügung als heute. Ohne einen festen Platz am Tisch der Unternehmensentscheider aber, ohne die Option, die gesamten Stärken der Disziplin Media in die strategische Kommunikationsplanung einzubringen und ohne die Möglichkeit, Wandel und Transformation mitzugestalten, wird der Short-Termism in den neuen Silos weiterleben und große Potenziale der Kommunikation werden ungenutzt bleiben.
Gelebte Kollaboration als Ausweg aus der Kommunikationskrise
Der geneigte Leser mag sich nun fragen, was zu tun ist, um diesen Irrweg zu beenden. Welche Veränderungen sind notwendig, damit die Disziplin Media nicht weiter am Katzentisch der Kommunikationsplanung Platz nehmen muss und damit Agenturen nicht zum Marken-Hospiz der Unternehmen werden? Klar ist, der Weg des Short-Termism, mit wie viel Ausdauer er auch immer beschritten werden mag, endet unweigerlich in einer Sackgasse für Marken und deren langfristigen Markterfolg. Bleibt die Frage, wie sich die kurzfristigen Umsatzziele mit dem nachhaltigen Aufbau der Brand Equity verbinden lassen.
Eine einfache und pauschale Antwort darauf gibt es – wie so oft im Leben – leider nicht. Dafür sind Unternehmensstrukturen, Geschäftsmodelle und Rahmenbedingungen des jeweiligen Marktes zu unterschiedlich und müssen stets individuell betrachtet werden. Nichtsdestotrotz dürfte ein wesentlicher Schlüssel zu einer nachhaltigeren und langfristigen Kommunikationsplanung in der Transformation der Zusammenarbeit liegen – sowohl mit Blick auf interne Prozesse als auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit externen Partnern.
Allen Beteuerungen zum Trotz findet Austausch weiterhin noch zu häufig in den berühmten Silos statt, welche angeblich doch alle längst eingerissen wurden. Die heutigen komplexen Fragestellungen und Herausforderungen machen es aber erforderlich, die Insights, Skills und Talente der unterschiedlichen Disziplinen und Unternehmensbereiche zusammenzuführen und gemeinschaftlich zu einer Wertbildung zu bringen. Wer dies nicht schafft, wird unweigerlich einen Wettbewerbsnachteil erfahren.
Entsprechend kommt der Bildung von cross-funktionalen und unternehmensübergreifenden Teams besondere Bedeutung bei und bildet das Fundament für echte, wertbildende Kollaboration. Diese integrierten Teams bieten die Möglichkeit, ein gemeinschaftliches Verständnis von Kommunikation und deren lang- und kurzfristigen Wirkungseffekten zu etablieren. Sie sorgen dafür, dass strategische, nachhaltige Kommunikationsplanung selbstverständlicher Teil des täglichen Denkens und Handelns wird und nicht auf ein jährliches Strategiemeeting reduziert wird. Ein holistisches Analyse-Modell, in dem langfristige Maßnahmen und Ziele mit kurzfristigen, taktischen Erfordernissen in Einklang gebracht werden, liefert dabei Orientierung und die Entscheidungsgrundlage für alle Stakeholder.
Es braucht mehr als einen wöchentlichen Jour Fixe
Klingt erstmal gar nicht so kompliziert, vielleicht sogar vertraut und gegen Integration und Kollaboration ist ja nun ohnehin niemand. Doch eine wirkungsvolle Umsetzung erfordert mehr als ein Lippenbekenntnis oder einen wöchentlichen Jour Fixe mit Personen aus unterschiedlichen Abteilungen. Es erfordert gegenseitiges Vertrauen, die Offenheit, das eigene Handeln zu hinterfragen und bestehende Fürstentümer für derlei agile und dynamische Strukturen zu öffnen. In der Zusammenarbeit mit externen Partnern sind daher Transparenz, hundertprozentige Beratungsneutralität und ein Geschäftsmodell, welches nicht im Widerspruch dazu steht, Grundvoraussetzung, um den heutigen Anforderungen überhaupt genügen zu können.
Es wird einer gemeinschaftlichen Anstrengung aller bedürfen, um den Short-Termism zu überwinden und der strategischen Kommunikationsplanung wieder ihre Bedeutung und ihren Wert für die kurz- und langfristigen Unternehmensziele zurückzugeben. Hierfür ist es zwar nicht zu spät, aber doch an der Zeit, umzudenken. Denn wie sagte Albert Einstein ebenfalls einmal so schön: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“
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