Es gibt einen neuen Trend in Ad Land, der im ersten Moment so selbstverständlich, ja fast banal klingt, dass der moderne Marketeer spontan geneigt ist, das Thema direkt vom Tisch zu wischen. Florian Holub, Director Strategy & Analytics bei CROSSMEDIA XCCELERATE, diskutiert darüber, wie viel Aufmerksamkeit Konsumenten Werbung wirklich noch schenken und welche Anforderungen eine immer stärker fragmentierte Medienlandschaft an Mediaplaner stellt.
Will mir meine Agentur allen Ernstes erzählen, dass Werbung gesehen werden muss, um zu wirken? Ja! Attention lautet das Zauberwort, Aufmerksamkeit also. Und das ist gerade in aller Munde. Es formiert sich ein immer lauter tönender Kanon aus sonst notorisch uneinigen Lagern: Werbetreibende, Medien, Agenturen und Tech-Anbieter erheben ihre Stimmen, um endlich Schluss zu machen mit überholten KPIs und einem Ungleichgewicht, das sich in den letzten Jahren fast unmerklich in die Mediapläne geschlichen hat. Schon vor einiger Zeit deklamierte der „Godfather of Effectiveness“ Les Binet, dass sich die Effektivität der Werbung nicht nur in einer Abwärtsspirale befinde, sondern trotz aller technischen Möglichkeiten, Big Data und Künstlicher Intelligenz (oft fragt man sich, ob das eine das andere ausschließt) ein Allzeit-Tief erreicht habe. Wie kann das sein?
Nicht von großen Zahlen blenden lassen
Hinter dem erstarkenden Attention-Movement steht die Erkenntnis, dass etablierte Mechanismen in einer zunehmend fragmentierten und digitalen Medienwelt nicht mehr greifen wie bisher, oder uns zumindest zu gefährlichen Fehleinschätzungen verleiten. Ein Blick auf die Mediennutzung von Zielgruppen zeigt heute fast in jedem Fall eine enorme Übermacht der digitalen Kanäle: Reichweite, Nutzungshäufigkeit, Time Spent – an all das können die „klassischen“ Medien nicht mehr heranreichen.
Allein diese Betrachtung aber greift offensichtlich schon zu kurz, so wie schon vor langer Zeit die Kategorie „Internet“ viel zu eng gefasst war, um all das, was sich dahinter verbirgt, auf einen Nenner zu bringen.
Ein guter Teil des Lebens von Menschen meiner Generation findet heute im digitalen Raum statt, vom Leben der Generation Z und Folgegenerationen, die ihr Taschengeld für virtuelles Make-Up und die Designer-Klamotten ihrer Snapchat-Avatare ausgeben, ganz zu schweigen. Aber längst nicht jede Minute, die wir in diesen digitalen Welten verbringen, hat Bedeutung für den Mediaplan. Die Vielfalt und Fragmentation der Internetnutzung führt dazu, dass sich hinter den großen Zahlen nicht unerhebliche Anteile an Medienzeit verbergen, die keinerlei werbliche Relevanz besitzen. AdBlocker, Direktkommunikation, nicht-werbliche Kanäle wie Netflix oder die öffentlich-rechtlichen Mediatheken sowie Paywalls und werbefreie Premiumangebote von Spotify & Co. lassen die Medienminuten, ähnlich wie die Polkappen, schneller schmelzen als gedacht. So zeigen die Ergebnisse der ARD/ZDF-Studie Massenkommunikation 2020, dass die mediale Internetnutzung nur etwa die Hälfte der gesamten Onlinenutzungszeit ausmacht – und selbst diese enthält noch werbefreie Umfelder.
Und dennoch machen die großen Zahlen und astronomischen Steigerungsraten von Usern und Werbespendings, die zu Google und Facebook abwandern, naturgemäß nicht nur Marketer und die Offline-Medienwelt nervös, sondern auch so manchen Mediaplaner. Da liegt es nahe, die Bedeutung, die digitale Medien mittlerweile in jedem Bereich unseres Lebens erlangt haben und die in der Pandemie nochmals merklich befeuert wurde, 1:1 auf Media zu übertragen.
Auch für Werbung und Media haben sich mit dem digitalen Shift ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, die gerade in Bereichen wie CRM, Automatisierung und Aktivierung Effizienzen heben können – wenn sie klug eingesetzt werden. Dennoch kann die undifferenzierte Betrachtung der Internetnutzung allein kein geeigneter Indikator zur Beurteilung von werblicher Relevanz sein. Denn ausgehend von der rein inhaltlichen Mediennutzung, die sich in den Reichweiten der Markt-Media-Studien manifestiert, über die werblichen Kontaktchancen in den gängigen Planungsprogrammen, bis hin zu Marketing-Mix-Modeling-Ansätzen am anderen Ende des Spektrums, die den Wirkbeitrag der Kanäle auf konkrete Business Outcomes beziffern sollen, gibt es multiple Ebenen der Werberelevanz, die es für ein möglichst ganzheitliches Verständnis zu betrachten gilt.
Kontakt ist nicht gleich Kontakt
Das alles war aber nur das Präludium zum Kern des Problems. Die Argumentation der Attention-Evangelists gründet sich auf die altbekannte Weisheit, dass sich Kontakte in unterschiedlichen Medien und Umfeldern in ihrer Wirkung und damit ihrem Wert für den Werbetreibenden nicht gleichsetzen lassen. Kaum jemand wird hier widersprechen und doch werden in der Praxis Impressions und Kontaktchancen aufaddiert, im TV verlorengegangene Reichweiten in jungen Zielgruppensegmenten über Social Media kompensiert (auf dem Papier wohlgemerkt) und ganz allgemein wenig über den im AdServer erfassten Kontakt hinausgedacht.
Was wir früher intuitiv und aus jahrelanger Erfahrung wussten und mit Aufkommen der digitalen Verblendung und Allmacht des Messbaren verdrängt haben, wird über moderne Technik und die Kombination von Eyetracking mit AI plötzlich quantifizierbar: So liefern Vorreiter auf dem Gebiet des Attention-Measurements wie Karen Nelson-Field oder LUMEN wertvolle Erkenntnisse dazu, wieviel Aufmerksamkeit wir der Werbung wirklich schenken. In der 2021 erschienenen Grundlagenstudie „The Challenge of Attention“ hat Lumen, gemeinsam mit Ebiquity und Tvision, festgestellt, dass wir nur 1% unseres Tages tatsächlich aufmerksam Werbung betrachten – das entspricht etwa 9 Minuten. Über alle Medien, Kanäle, Devices und Marken hinweg wohlgemerkt!
…und Reichweite nicht gleich Reichweite
Ebenso wichtig für uns als Agentur und unsere Kunden als Werbetreibende ist, dass der Anteil der ausgespielten Werbung, die von echten Menschen gesehen und aufmerksam betrachtet wird, über die Medien hinweg massiv variiert. Ein Beispiel: In der internationalen Studienreihe „Not all reach is equal“ kommt die renommierte Australische Forscherin Karen Nelson-Field zu dem Ergebnis, dass der Anteil der Werbespots, die wir nicht einmal beiläufig wahrnehmen, in Facebook 2,5x höher liegt als beispielsweise im TV. Dieser Umstand lässt sich aus Unterschieden in der Nutzungssituation und technischen Gegebenheiten wie Ad Clutter, Screen Coverage, Scrolling Geschwindigkeit oder Bildschirmgröße herleiten und führt nicht nur dazu, dass die Wirkung von Kontakten über die Plattformen hinweg um mehr als Faktor 15x schwankt, sondern schlägt sich auch in der Nachhaltigkeit der Werbekontakte nieder. So ließen sich im TV bis 78 Tage nach Kontakt noch Uplifts feststellen, wohingegen auf YouTube bereits nach knapp zwei Wochen kein Unterschied mehr zur Baseline vorhanden war.
Und auch im digitalen Universum selbst gibt es große Unterschiede: Lumen und Ebiquity kamen zu dem Ergebnis, dass von jeweils 1.000 Kontakten, die nach gültiger Konvention in den verschiedenen Kanälen erzielt werden, auf YouTube ganze 4.524 aktiv betrachtete Werbesekunden ankommen, wohingegen sich die Zahl im Desktop Display-Bereich nur auf magere 148 Sekunden beläuft. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass die gemessene Aufmerksamkeit eine hohe Korrelation mit einer Vielzahl wichtiger Marken- und Abverkaufs-KPIs aufweist. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Attention sich als verlässlicher Indikator für Werbeerfolg anbietet.
Werden all diese qualitativen Faktoren berücksichtigt, relativieren sich scheinbar günstige TKPs für Display Werbemittel oder Social Media Ads ein Stück weit. Das bedeutet nicht, dass all diese Kanäle nicht ihre Berechtigung und Funktion im Mediamix haben – aber es rückt die Perspektive auf ihren „Fair Share“ am Kuchen wieder zurecht.
Übrigens gilt dasselbe Prinzip durchaus auch innerhalb der Kanäle, wenn es um die Performance auf Umfeld- und Platzierungsebene geht – oft sogar in noch stärkerem Maße. Wo die Rahmenparameter der Werbeauslieferung im TV oder auf den großen Plattformen wie YouTube und Facebook noch einigermaßen konstant sind, schwankt die Umfeldqualität im Open Web enorm. Das zieht eine exponentiell höhere Varianz in der Attention nach sich, die auf Umfeld A oder B generiert werden kann. Somit sollte das Thema Attention gerade im rasant wachsenden Segment des Programmatic Advertising auf fruchtbaren Boden fallen.
Richtungsgeber für die Trendwende
Und das tut es auch! Mittlerweile gibt es eine Reihe von Playern aus dem AdTech-Sektor, die versprechen, das Prinzip „Attention“ aus der Grundlagenforschung in die operative Kampagnenplanung zu überführen. Adelaide mit der von ihnen kreierten Messgröße „Attention Unit“ oder Lumen und Avocet mit ihrem gemeinsamen Angebot L.A.M.P. (FLumen Attention Measurement Platform) überführen die Erkenntnisse über zugrundeliegende Prinzipien und Einflussfaktoren der Aufmerksamkeit über Algorithmen, beispielsweise als DSP-Plug-in, direkt in den programmatischen Einkauf und die Optimierung von Onlinekampagnen.
Insgesamt ist der immer stärkere Fokus auf Attention und Werbewirkung zweifelsfrei ein Schritt in die richtige Richtung (und ein lange überfälliger noch dazu). Noch haben die bisherigen Ansätze bei aller Euphorie aber ihre Grenzen und systemimmanente Probleme. Viele Grundlagenstudien sind auf ein enges Medienset begrenzt, das meist stark auf Bewegtbildwerbung und digitale Medien fokussiert, und bieten damit noch kein gattungsübergreifendes Framework, welches den Anforderungen einer neutralen und ganzheitlichen Beratung genügen würde. Mit immer mehr Beteiligten aus verschiedenen Mediengattungsinitiativen und der Integration in agentureigene Systeme besteht aber durchaus Hoffnung, die noch vorhandenen Lücken in absehbarer Zeit zu schließen.
Auch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Methodik geschuldet, viele Initiativen die visuelle Aufmerksamkeit und Betrachtungsdauer als Maßstab und Grundlage der Werbewirkung erfassen. Das ist für Display-Werbung, bei Bewegtbild oder Out-of-Home absolut richtig, stößt aber spätestens bei Podcasts oder Radiowerbung an seine Grenzen, da diese rein auditiven Kanäle nach anderen Wirkweisen funktionieren.
Wir müssen aufhören, uns an belanglosen Media-Kennzahlen abzuarbeiten
Trotz allen Wenn und Abers sieht es gar nicht so schlecht aus und ich bin durchaus optimistisch gestimmt. Wir stehen vor einer Kehrtwende der Werbeeffektivität zum Positiven – wenn, ja wenn Werbetreibende sich eingestehen, dass nicht alles, was im Digitalen in Real Time messbar ist, auch Bedeutung für ihren Geschäftserfolg hat. Wenn Agenturen in der Beratung den Blick wieder stärker auf grundlegende Wirkmechanismen und reale Business Outcomes lenken, anstatt sich an belanglosen Media-Kennzahlen und Engagement-Raten abzuarbeiten oder jeden Tech-Hype so brandheiß an ihre Kunden weiterreichen, dass diese sich die Finger daran verbrennen. Und wenn qualitative Faktoren wie Attention einen entsprechenden Stellenwert in Audits erfahren. Agenturen müssen die berechtigte Forderung ihrer Kunden nach Qualität und Wirkung ernst nehmen. Und Kunden dürfen Agenturbewertungen nicht länger an pauschalen TKPs auf Basis willkürlicher Kontaktdefinitionen festmachen, die nachweislich wenig darüber aussagen, ob Werbung wirklich gesehen und beachtet wird.
Foto Credit: CC7 (Shutterstock)
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