Ist die KI-basierte Werbemittelausteuerung tatsächlich der manuellen Optimierung überlegen? Und was bedeutet das für uns als Marketers? Diese Fragen hat Samuel Andratschke, Director Social Media Advertising CROSSMEDIA Düsseldorf, gestellt.
Vor Kurzem habe ich an einem digitalen Social Commerce Summit in Berlin teilgenommen. Neuheiten, Trends und spannende Zukunftsvisionen wurden dort gezeigt und gemeinsam diskutiert. Am Ende eines inputreichen Tages habe ich das Aufgenommene im Kopf noch einmal geordnet und dabei festgestellt, dass im Prinzip eine sehr große Übereinstimmung bei den Ausblicken und Best Practices der jeweiligen großen Plattformen im Social Media Advertising vorliegt. Darüber hinaus gelten diese Best Practices ebenso bei den anderen digitalen Gattungen. Böse Stimmen würden hier von einem strategischem Einheitsbrei sprechen, trotz der enorm fragmentierten Digital Advertising-Landschaft, die der derzeitige Status quo ist.
Früher war alles besser – wirklich?
„Früher war alles besser“ hört man ja häufig. Hierbei spielt sicher auch immer eine gewisse romantische Sehnsucht bei retrospektiven Betrachtungen eine Rolle, die uns Menschen innewohnt. Aber hat jedes Sprichwort nicht auch im Kern seine Wahrheit? Es stellt sich also die Frage, ob das oben Genannte auch im Bereich Digital Advertising gilt, oder ob hier dann doch eine objektive Betrachtung die fortschrittlichen Entwicklungen der letzten Jahre als das bessere Zeitalter deklarieren wird.
Ich habe in einer Zeit mit dem digitalen Advertising angefangen, in der Kampagnen händisch noch sehr granular aufgesetzt wurden. Zielgruppen wurden nach Geschlechtern, Regionen und verschiedenen Altersclustern getrennt und diese jeweils in Kombination mit den passenden Interessen der Zielgruppe aufgesetzt. Es galt: Je mehr Line Items eine Kampagne hat, desto besser lässt diese sich steuern und optimieren. Gebote wurden täglich manuell überwacht und entsprechend hoch- oder herunterskaliert, um die bestmögliche Performance zu gewährleisten. Mit dem ersten aufkommenden Hype des Real Time Bidding Campaigning in den frühen 2010er Jahren gab es bereits erste Indikatoren, die darauf hindeuteten, was technisch möglich ist und wie und wohin sich die digitale Marktlandschaft bewegen wird.
Heute, knapp 10 Jahre später, sind die digitalen Strategien auf den Plattformen komplett divergent von dem oben skizzierten Ansatz. Die Algorithmen der Tools wurden mit der Zeit immer stärker darin, Nutzerinteressen zu unterscheiden, zu clustern und die gewonnenen Insights über die Nutzer in der Aussteuerung der Kampagnen anzuwenden. Hierzu sind vorausgehend immer eine Vielzahl an Signalen nötig, die Nutzer mit ihrem digitalen Footprint – entweder im Open Web, oder In-App in den Walled Gardens – hinterlassen. Es lässt sich festhalten: Anders als der vorherige Ansatz, mit möglichst vielen und granularen Line Items zu arbeiten, sind es nun möglichst viele und detaillierte Signale im Nutzerverhalten, die eine Kampagnenaktivierung mit funktionierendem Machine Learning ermöglichen. Um den Systemen hierbei möglichst viele Freiheiten in der Aussteuerung zu gewährleisten, wird empfohlen, idealerweise alle Zielgruppen und Targetings innerhalb eines Single-Campaign-Setups aufzusetzen. Die manuelle Kontrolle über die Performance wird dadurch ein großes Stück aus der Hand gegeben. Möglichkeiten einer Optimierung beschränken sich, platt gesagt, auf das Hoch- und Runterskalieren der täglich einzusetzen Mediabudgets für die vorgegebene Zielerreichung.
Algorithmen rechnen, Menschen beraten
Ist das jetzt besser oder schlechter, mag man sich fragen? Ein nicht von der Hand zu weisender Vorteil ist in der Tat die Zeitersparnis beim Aufsatz von Kampagnen. Ebenso optimieren die Algorithmen 24/7 auf die eingestellten Vorgaben, ohne dabei müde zu werden, Feiertage und Krankheitstage gibt es nicht und menschliche Fehlerquellen werden minimiert. Aber: Ein Algorithmus kann immer nur dann gut funktionieren, wenn er eine klare und seinen Vorgaben entsprechende Zielsetzung diktiert bekommt. Anders als der/die Accountmanger:in wird er nicht in der Lage sein, Kundenwünsche vielseitig zu interpretieren und auf dedizierte, mehr KPIs betrachtenden Aufgaben zu reagieren. In der Theorie sollten Kunden sich zwar idealerweise auf ein einzelnes, übergeordnetes Ziel commiten, in der Praxis wird aber häufig noch die eierlegende Wollmilchsau eingefordert, die wir alle nur zu gut kennen. Die Aufgabe als Client Consultant oder Agentur scheint auf der Hand zu liegen und liest sich einfach: Den entsprechenden Kunden aufzeigen, was Tools und Systeme können und was eben nicht. Das klingt aber leichter als es ist – denn in der Regel sind es mehrere Stakeholder, die über Marketingbudgets entscheiden und zumindest in Teilen einen unterschiedlichen oder zumindest multiplen Fokus auf Zielsetzungen legen. Aus meiner Erfahrung übersteigt die Anzahl von Briefings mit mindestens einem additionalem KPI solche mit einer einzelnen und strikt ausformulierten Zielsetzung. Wenn zudem Business KPIs nicht ausschließlich auf verfügbare Datensegmente der Systeme heruntergebrochen werden, kommt maschinelles Lernen ebenso schnell an eine Grenze.
Ein Shift im Aufgabenprofil
Wir gehen wir also damit um und wie verändert sich dabei die Rolle des/der Accountmanager:in in diesem Setup? Und laufen wir Gefahr – wie z. B. etliche handwerkliche Berufsfelder – durch die Maschine ersetzt zu werden? Wichtig ist es zu verstehen, dass das direkte Campaigning in den jeweiligen Plattformen sich vereinfachen und im Aufwand vermutlich auch zukünftig noch weiter reduzieren wird. Das Jobprofil von Online Marketers wird sich unabdingbar immer mehr hin zu einer beratenden Rolle und weg von der unmittelbaren Maschinenraum-Expertise wandeln. Marketers sollten – und zwar nicht erst ab Seniorlevel – strategischer und analytischer denken. Die durch den Einsatz von KI und Smart Bidding gewonnene Zeit kann im Tagesgeschäft sinnvoll dafür eingesetzt werden. Wo Accountmanager:innen vorher täglich mehrere Stunden aktiv an Stellschrauben zur Optimierung von Kampagnen gedreht haben, bedarf es nun einer detaillierten Beobachtung und Analyse von Performance und Zielerreichung, sowie der Ableitung entsprechender crossmedialer Handlungsempfehlungen. Herausforderung hierbei ist zu verstehen, inwiefern eine oder mehrere Zielsetzungen sich komplett über eine vollautomatisierte Optimierung der Systeme erreichen lassen, oder wo es gewisse Kompromisse geben muss. Die Entwicklung adaptiver und passgenauer Lösungsansätze wird dadurch noch mehr zur Kernaufgabe in der digitalen Werbekommunikation werden.
Benefits mitnehmen und offen für Veränderungen bleiben
Wo es möglich ist, darf und sollte man auf die volle Kraft des Smart Bidding und Maschine Learning setzen. Klare Briefings und eindeutige KPIs, an denen Maßnahmen gemessen werden, sind dabei die erste Voraussetzung. Jedoch ist nicht immer ist alles eindeutig schwarz-weiß und wir bewegen uns häufig in Grauzonen. Dort gilt es dann, eben über gesammelte Erfahrungen und ein gutes Verständnis für die Funktionsweise der Systeme die bestmögliche Adaption einer Strategie abzuleiten. Sich generell der AI zu verweigern und das Credo „ich mache alle Optimierungen lieber selbst“ zu bemühen, ist nicht zielführend. Entwicklungen finden rasant statt, in allen Bereichen des Lebens. Insbesondere aber dort, wo manuelle Prozesse über Maschine Learning ersetzt bzw. ergänzt werden. Das Ganze wird zukünftig noch weiter Fahrt aufnehmen und lässt sich auch nicht anhalten. Umso wichtiger ist es, diese Veränderung wertfrei anzunehmen, denn der Versuch dagegen zu steuern und dadurch Gefahr zu laufen als „ewig gestrig“ zu gelten, bringt weder unsere Kunden noch uns persönlich weiter.
Gute Gedanken zu einer sinnvollen Balance von effizienter Automatisierung und strategischer Expertise! Ein Aspekt der gerne beim oft blinden Vertrauen auf den Algorithmus außer Acht gelassen wird, ist auch, dass dieser immer nur auf kurzfristige Effekte optimieren kann und damit gerne mal in eine Richtung steuert, die dem nachhaltigen Unternehmenserfolg nicht zwangsweise zugute kommt.