In einer Welt voll mündiger Konsumenten haben Marken es verdammt schwer – könnte man meinen. Jean Michel Christ, Head of Influencer Marketing bei CROSSMEDIA, sieht das anders. Verbraucher via Social Media an der Entwicklung von Produkten und Services zu beteiligen, sieht er als ultimative Chance, die für Marken zum Game Changer werden kann.
Kommunikation darf keine Einbahnstraße sein – das gilt nicht nur für zwischenmenschliche Interaktionen, sondern auch für zeitgemäße Markenkommunikation. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Art und Weise, wie wir über und vor allem mit Marken kommunizieren, grundlegend verändert. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass mit Marken und Produkten stets eine gewisse Autorität einherging. Menschen haben Marken früher deutlich weniger kritisch hinterfragt und ihre Produktversprechen, getreu dem Motto „die wissen schon, was sie tun“, in der Regel ohne großen Protest akzeptiert. Heute sind Marken weit von einem solchen Status der Unantastbarkeit entfernt.
Der Grund hierfür ist ein neues Verständnis von Kommunikation, bedingt durch neue Formen der Kommunikation, sowie neue Orte, an denen kommuniziert wird. Mit der Evolution des Internets ist ein Ort entstanden, welcher Gruppen von Menschen unterschiedlichster Herkunft verbindet, geographische Hürden bedeutungslos werden lässt und Kommunikation somit grundlegend revolutioniert hat. Durch das Aufkommen von Internetforen, Kommentarspalten und im Besonderen Social Media-Plattformen wird zudem das sehr menschliche Bedürfnis nach Austausch und Vernetzung bedient.
Konsumentenmündigkeit wird massiv unterschätzt
Damit verbunden geben Social Media Accounts auch dem Wunsch Raum, sich stärker zu profilieren, was zu einer neuen Form von Konsumentenmündigkeit führt. Sich zu informieren, Daten und Aussagen kritisch zu prüfen, Autoritäten zu hinterfragen, für die eigenen Werte einzutreten und diese mit der Welt zu teilen, gehört mittlerweile zum Alltag. Das in vielen Bereichen gelebte Kommunikationsmodell „top-down“ wurde neu ausgerichtet und neigt nun immer stärker Richtung „bottom-up“. Konsumenten gehen mit detaillierten Kenntnissen über Inhaltsstoffe, Zusammensetzung, Produktionsort, fairen oder nicht fairen Handel und die CO₂-Bilanz bewaffnet in die Diskussion mit Marken, um Produkte nach (oder sogar noch vor dem Launch) zu optimieren. Durch neue Informationsquellen, neue Formen des kritischen Austauschs und einer allgemein gesteigerten Nachfrage nach mehr Transparenz ist ein Wandel entstanden, welcher das Selbstverständnis von Marken erfolgreich hinterfragt und somit das Kräfteverhältnis zwischen Zielgruppe und Marke neu sortiert hat. Ein Umstand, der bereits von einigen Brands verstanden und zu ihrem Vorteil genutzt, doch von den meisten nach wie vor ignoriert und massiv unterschätzt wird.
Das Pinky Glove-Desaster
Im absoluten Worst Case schießen Hersteller mit ihrer Idee so weit daneben, dass entweder die gesamte Produktlinie oder sogar das Unternehmen baden geht. So zuletzt bei „Höhle der Löwen“ auf VOX geschehen, als zwei männliche Jungunternehmer ein vermeintlich durchdachtes Produkt zur „praktischen und vor allem hygienischen Entsorgung von Damenhygieneartikeln“ an den Start bringen wollten. Der sogenannte „Pinky Glove“ stieß im Netz jedoch auf eine derart negative Resonanz, dass nach der Sendung umgehend ein massiver Shitstorm über Produkt, Unternehmen und die beiden Gründer hineinbrach. Die Welle der Empörung löste sogar eine Grundsatzdiskussion aus, die weit über die Grenzen der eigentlichen Zielgruppe hinausging und eine Woche lang die deutsche Medienlandschaft beherrschte. Dieses junge Paradebeispiel ist alles andere als ein Einzelfall und zeigt einmal mehr, wie kritisch sich die potenzielle Käuferschaft heute mit Artikeln auseinandersetzt.
Solche Fauxpas treten jedoch nicht nur bei Jungunternehmern ohne renommierten CV und jahrelange Marketingexpertise auf, sondern treffen genauso häufig etablierte Brands mit versierten Produkt- und Marketingexperten. Dass es auch anders geht, beweisen Marken wie Garnier, Alpro, DM oder Rügenwalder Mühle. Hier finden sich etliche positive Beispiele für einen offenen und Innovationen hervorbringenden Zielgruppendialog. Was diese Marken anders gemacht haben? Sie haben zugehört. Ob gezwungenermaßen oder progressiv motiviert, ist für das Ergebnis letztlich egal. Die Marken haben sich getraut, alte „… ja, aber so haben wir das schon immer gemacht!“-Muster abzulegen, um Gesicht und Haltung zu zeigen. Austragungsort für all das: Das immer mehr diversifizierte Universum der sozialen Medien.
„Social Media und Echtzeitkommunikation? Is‘ doch nur was für junge Leute!“
Mittlerweile ist der Social Media Markt soweit konsolidiert, dass wir nicht nur direkt auf den Portalen fragmentierte Zielgruppen ansprechen können, sondern diese auch von Haus aus unterschiedliche Demografien aufweisen. Die Kurzversion: Als Veteran unter den etablierten Netzwerken gilt Facebook gemeinhin als Zuhause für ältere Zielgruppen, während neuere Plattformen wie Instagram, TikTok und Twitch entsprechend jüngere bis gemischte Zielgruppen beheimaten. Dank regelmäßiger Update Reports seitens der Netzwerke sowie unabhängigen MaFo-Studien wissen wir jedoch, dass auch die jüngeren Netzwerke täglich neue Nutzer jenseits der 39-49+ verzeichnen, welche von Marken aktiv angesprochen und in den Produktionsprozess integriert werden können. Die extrem starke Performance von Kanälen mit vermeintlich Social Media-fremdem Fokus, wie z. B. Herr Anwalt, Der Orthopäde oder MrTiefschlaf, sind nur einige wenige Beispiele für erfolgreich etablierte Accounts, die auch bei kaufstarken Zielgruppen oberhalb der 35+ hervorragend funktionieren.
Social Media-Portale sind schon lange keine Teenie-Spielwiese mehr und – das ist mindestens genauso relevant – die dort beheimateten Zielgruppen warten regelrecht darauf, dass man eines der zahlreichen Features der jeweiligen Plattformen nutzt, um sie anzusprechen, um mit ihnen zu interagieren und um gemeinsam mit ihnen zu wachsen und etwas zu entwickeln.
Potenzielle Game Changer: Echtzeit-Marketinginstrumente
Einer der Faktoren, der die Social Media-Plattformen für Marken unglaublich wertvoll macht, ist die Kommunikation in Echtzeit. Wenn beispielsweise eine Marke ein neues Produkt auf YouTube, Instagram oder Facebook vorstellt, können Nutzer sofort reagieren und ihre Meinung spiegeln. Für die Marke entsteht somit der Vorteil, dass sie quasi ohne Zeitverzug ein wertvolles Meinungs- und Stimmungsbild einfangen und in die weitere Planung einfließen lassen können. Hersteller können somit noch vor Produktlaunch auf den Input der Konsumenten eingehen und Prozesse, Optik oder Funktionen anpassen.
Live Streams werden ebenfalls bereits jetzt effektiv als Live Shopping Events inszeniert und somit als Echtzeit-Marketinginstrument eingesetzt. Hierbei werden Informationen eingeholt, Verbraucher abgeholt und der Abverkauf parallel gesteigert. In Asien längst ein alter Hut mit mehreren Milliarden Umsatz pro Jahr, während sich in Deutschland mit flaconi, Takko Fashion oder Orsay erst wenige mutige Brands erfolgreich als Pioniere behauptet haben. Ihre Beispiele zeigen: Wer Social Media zu einem eindimensionalen top-down Marketingkanal degradiert, der verschenkt einen Großteil des wahren Marktpotenzials.
Keine Angst vor Kommunikation auf Augenhöhe
Marken müssen Innovationen in Zukunft nicht nur auf Produktebene, sondern auch auf Kommunikationsebene suchen. Verbraucher haben eine Stimme, die gehört und verstanden werden will und wo auch immer diese Stimme laut wird, muss die Marke präsent sein. Hierbei reicht es nicht aus, einen seelenlosen Social Media Account zu bespielen, nur um den Schein des Zeitgemäßen zu wahren. Wer Social Media als Bürde sieht, hat fast schon verloren.
Marken brauchen ein aktives Umdenken und die Erkenntnis, dass sie das nötige Tool, um sich auf Augenhöhe (ergo: en vogue) zu positionieren, bereits in den Händen halten.
Die Zukunft gehört jenen Marken, die Konsumenten aktiv in den gesamten Entwicklungsprozess einbeziehen. Nach wie vor besteht die größte Sorge des Unternehmens oftmals darin, kontrollierte Verantwortungsbereiche aus den Händen zu geben. Dabei entsteht durch diese interaktive Form der Einbeziehung ganz im Gegenteil eine komplett neue Dynamik zwischen Kunde und Marke, welche zum Fundament für eine lebenslange Markentreue heranwachsen kann.
Involvement Marketing bedeutet genau das: Konsumenten aktiv in die (Weiter-)Entwicklung einer Marke einzubinden. Wer die neugewonnene Mündigkeit der Verbraucher anerkennt und authentisch mit seiner Marken-DNA verknüpft, hat beste Chancen, sich optimal für die kommenden Jahre aufzustellen.
Was denkst du?