Die Ankündigung von Netflix, künftig auch werbefinanzierte Abo-Modelle anzubieten, hat für eine Menge Aufsehen gesorgt. Aber wie viel Potenzial hat das Angebot überhaupt? Und sprechen wir hier von einer krassen Disruption des Bewegtbildmarktes oder ändert sich für die linearen TV-Sender erst einmal nicht viel? Wir haben das Thema einmal aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
Es ist kein Geheimnis, dass sich unser Bewegtbildkonsum heute auf eine Vielzahl von Kanälen und Devices verteilt – von den Mediatheken der TV-Sender, über Live-Streaming auf Gaming-Plattformen wie Twitch bis zu den Feeds und Stories der Sozialen Netzwerke. In der „alten Welt“ bringt RTL währenddessen Dieter Bohlen für eine letzte Staffel DSDS zurück in die Jury – um dann eines der letzten großen TV-Lagerfeuer endgültig einzustellen.
Einer der maßgeblichen Disruptoren in puncto Mediennutzung, gerade bei Gen Z und Millennials, war Netflix. Doch während Meta & Co. ihre Videoreichweiten, wo sie können, monetarisieren, hatte Netflix bisher kaum Relevanz für die Werbewirtschaft. Das soll sich jetzt ändern: Die Ankündigung von günstigeren, werbefinanzierten Abo-Modellen, verbunden mit der strategischen Partnerschaft von Netflix und Microsoft in der Werbevermarktung markiert den Startschuss für weitere tiefgreifende Umbrüche im TV- und Bewegtbildwerbemarkt.
WELCHE TRAGWEITE HABEN DIESE VERÄNDERUNGEN?
Die kürzlich veröffentlichten Daten der AGF1 zeigen anschaulich, dass trotz zunehmender Fragmentierung im Streaming-Markt und nach unten korrigierter Nutzerprognosen seitens Netflix noch immer Dynamik im SVOD-Bereich herrscht. So bleibt Netflix nicht nur Top-Player, sondern kann gerade gegen die kostenfreie Konkurrenz von YouTube im Frühjahr wieder an Reichweite zulegen. Trotzdem ist eine gewisse Abo-Müdigkeit nicht zu leugnen und mit ein Grund für die forcierte Suche nach neuen Monetarisierungsmodellen für die Zukunft.
Die aktuellsten Zahlen von YouGov2 zur regelmäßigen Nutzung zeigen, dass Netflix mit 33 % Reichweite bei den über 18-Jährigen und sogar 49 % Reichweite im jungen Segment der 18- bis 29-Jährigen mittlerweile enorme Strahlkraft besitzt – vor allem wenn es darum geht, die Marken-Fans von Morgen zu erreichen und zu begeistern. Ein Job, an dem sich die großen TV-Vermarkter mit ihren Digitalangeboten immer noch die Zähne ausbeißen.
Aber welche Bedrohung stellt das neue werbliche Angebot des Streaming-Riesen für die klassischen TV-Vermarkter dar? Oder aus Perspektive der Werbetreibenden: Welche Chancen tun sich damit auf, schwindende Reichweiten im linearen TV aufzufangen?
Dafür zunächst ein Blick auf die Nutzerüberschneidungen: Von den regelmäßigen Netflix-Sehern schalten 60 % weiterhin auch lineare TV-Programme ein, wenngleich seltener als im Bevölkerungsdurchschnitt. Der Anteil zusätzlicher Nutzer, die der Kanal bietet, liegt etwa bei 30-40 %. Vor allem bei den 18- bis 29-Jährigen sagt bereits deutlich mehr als ein Drittel, dass sie Bewegtbildinhalte ausschließlich über Streaming-Dienste und nicht mehr im klassischen Fernsehen konsumieren.2
WIE GUT WIRD DAS WERBEANGEBBOT ANGENOMMEN WERDEN?
Ein Blick auf andere Streaming-Anbieter mit sowohl bezahlten als auch kostenfreien Angeboten legt nahe, dass der Anteil derer, die Werbung für vergünstigte oder freie Nutzung in Kauf nehmen, im Bereich von etwa 30 %3 liegen könnte. Die aktuelle Wirtschaftslage, Inflation und Unsicherheit begünstigen vielleicht Überlegungen, ob man denn nun wirklich mehrere bezahlte Streaming-Abos benötigt4 und lassen die Nutzer stärker auf den Preis schauen als bisher. Andererseits liegt der Anteil der User mit bezahlten Accounts gerade bei den Jungen deutlich höher – ein Indiz, dass sich hier ein Großteil der Streamer sehr bewusst für ein werbefreies Erlebnis entschieden hat. Die genauen Dimensionen hängen letztlich sicher davon ab, wie signifikant der Preisunterschied innerhalb des Netflix-Angebots ausfällt.
Legt man diese Zahlen zugrunde, ergibt sich ein kurz- bis mittelfristiges Potenzial von 5-6 Mio. Nutzern, davon etwas weniger als 2 Mio., die bisher nur schwer oder gar nicht über TV-Kampagnen erreicht werden konnten, über das neue Angebot von Netflix und Microsoft aber mit einem Schlag auf dem Big Screen adressierbar wären. Auch wenn dies natürlich heute schon in Teilen über YouTube und die Vielzahl anderer Videoplattformen möglich ist, wird alleine die gebündelte Marktmacht hinter der Marke Netflix wohl eine bisher nicht dagewesene psychologische Signalwirkung entfalten und nicht nur bei First Movern zu Budgetshifts im Mediamix führen.
RICHTUNGSWEISENDER MEILENSTEIN
Das Fazit: Wir haben es zumindest im ersten Schritt eher mit einer Evolution als Revolution zu tun und nicht dem großen Paukenschlag, den die Ankündigung vermuten lässt. Nichtsdestotrotz bedeutetet der Schritt von Netflix aber einen richtungsweisenden Meilenstein in der Entwicklung des Bewegtbildmarktes in Deutschland. Und er wird die etablierten TV-Vermarkter sicherlich auch in den ohnehin verschärften Preisverhandlungen weiter unter Druck setzen. Auch wenn Netflix nicht unmittelbar seine gesamte Reichweite monetarisieren kann, stellt das werberelevante Potenzial sehr wahrscheinlich trotzdem die Mediatheken der TV-Vermarkter in den Schatten und ist damit ein durchaus ernstzunehmendes Gegengewicht im Markt. Mit nachwachsenden Kohorten und Lerneffekten wird sich das werbliche Potenzial zudem stetig steigern.
In diesem Zuge wird es spannend sein zu beobachten, wie die Reaktion der TV-Vermarktungshäuser ausfallen werden und ob sie angesichts des neuen Gegenwindes, der auf sie zukommt, vielleicht doch noch zwingendere Allianzen untereinander schließen werden, um der amerikanischen Konkurrenz mit vereinten Kräften gegenüberzutreten.
UND TROTZDEM NICHT DIE FINALE ANTWORT DARAUF, WIE MAN DIE GEN Z WERBLICH ERREICHT UND BINDET
Abzuwarten bleibt indessen, ob das reine Auffangen sinkender Spot-Reichweiten in einem neuen Kanal wirklich die Antwort auf die immer schwierigere werbliche Ansprache und Bindung der Generation Z an Marken darstellt. Denn sowohl was ihre Offenheit für klassische Werbeformate im Digitalen3 betrifft als auch ihre Erwartungen an Marken und deren Rolle in ihrem Leben, hat sich im Vergleich zu vorangegangenen Generationen vieles maßgeblich gewandelt.
Klar ist, dass wie auch bei anderen Kanälen – sei es In-Stream, Outstream oder Social Media – den Eigenheiten und Erwartungen von Channel und Usern Rechnung getragen werden muss, wenn man als Marke erfolgreich und authentisch werben und nicht als Fremdkörper wahrgenommen werden will. Sehr plakativ wurden die Unterschiede zwischen Fernsehsendern, Mediatheken, YouTube & Co. in ihren Nutzungsverfassungen und Motivationen zuletzt in der Screenforce-Studie „Mapping the Moods“ belegt. Während beim linearen TV auch Information, Live-Erlebnis oder Routine eine große Rolle spielen, geht es auf Netflix für uns vor allem um Genuss: Alltagssorgen vergessen, entspannen und unterhalten werden. Es wird also nicht damit getan sein, einfach den gleichen TVC auszuspielen wie im TV.5
So liegt die wahre Stärke von Netflix als Plattform auch in einer teilweise werbefinanzierten Zukunft möglicherweise weiterhin nicht unbedingt in der Ausspielung von Spots nach den alten Regeln der TV-Glanzzeiten, sondern viel mehr in smarten, relevanten Markenintegrationen, wie gerade z. B. im Fall der Retro-Ausstattung des Stranger Things-Casts durch Quicksilver.
1 AGF Plattformstudie 2022-I
2 YouGov Profiles Germany 2022-07-17
3 Best4Planning 2021-III
4 Simon-Kucher & Partners – Global Streaming Study 2022
5 Screenforce – Mapping the Moods 2022
Foto Credit: Mollie Sivaram (Unsplash)
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