Im emotionalen Strudel von persönlicher Betroffenheit, Nachrichten-Overload und allseits gefühlter Ohnmacht war unsere Client Service Direktorin Stephanie Marchio zunächst geneigt, Unternehmen kategorisch von einer Fortführung ihrer Kampagnen abzuraten. Wer kann sich im aktuellen Informationswirrwarr denn ernsthaft einen Markennamen merken? Und ist werbliche Kommunikation vor dem Hintergrund eines Krieges nicht immer deplatziert? Nach der ersten Schockstarre aber klärt sich das Bild und es kristallisieren sich konkrete Anhaltspunkte für Markenkommunikation in Krisenzeiten heraus. Ein persönlicher Bericht und sechs hilfreiche Tipps.
Wie entwickelt man eine fachlich-empfehlende Haltung zu einem neuen Thema, das „Krieg in Europa“ heißt?
In den ersten Stunden und Tagen gilt es erst einmal, selbst das Unbegreifliche zu begreifen. Mir ist das bis heute, gut drei Wochen nach dem Einmarsch der ersten Truppen in der Ukraine, noch nicht ganz gelungen. Ich klicke permanent durch News-Portale und muss mich zusammenreißen, um nicht dem Doom-Scrolling zu verfallen. Die Frequenz meiner Mediennutzung hat sich erhöht, meine Aufnahmebereitschaft aber zunehmend verringert. Ich fühle mich ohnmächtig und auch mein Umfeld reagiert ähnlich: „Nach zwei Jahren Pandemie auch noch das“.
Mitten im persönlichen Krisenmodus der ersten Kriegstage kommen besorgte Kundenfragen bei uns an: „Sollen wir die Kampagne wie geplant schalten?“. Der erste emotionsgeladene Impuls ist: Wen interessiert Werbung bitte gerade da draußen? Menschen verlieren ihr Leben, die europäische Demokratie wird angegriffen, der Krieg fühlt sich nur knappe 2.000 Kilometer entfernt gefährlich nah an. Komplett unwahrscheinlich, dass jemand aktuell die Auffassungsgabe dazu hat, sich einen Marken- oder Produktnamen zu merken oder sich gar inspiriert fühlt, neue Produkte zu kaufen. Ich fühle das Zitat von Mark Ritson, Londoner Professor für Marketing, genauso wie er es schreibt: „At times of war marketing is rendered superficial and ridiculous“.
Aus Emotionen eine differenzierte Haltung entwickeln
Doch gerade jetzt ist es wichtiger denn je, Emotionen in puncto Beratung mit Rationalität zu schlagen. Auch zu diesem Thema müssen wir eine differenzierte Haltung entwickeln, das ist unsere Aufgabe. Die ersten Rückmeldungen aus unserem strategischen Einkauf: „Wir sehen noch keine großen Stornierungen, Kunden gehen aber aus News-Sendern raus und einige Werbeblöcke werden für Sondersendungen gestrichen“. Die nächsten Aussagen bestätigen, dass die meisten Kunden ihre Kampagnen weiterverfolgen möchten. Wir tauschen uns intern aus zu Unternehmen, die ihre Kampagnen in Russland stoppen, Google-Trends-Entwicklungen seit Beginn der Krise, der Spendenkommunikation großer Marken und dem Brand-Safety-Status unserer Tools und externer Plattformen. Niemand weiß sicher, wie man in dieser Situation vorgeht.
Ich lese mich weiter in internationale Meinungen ein. Beobachte immer mehr Unternehmen, die unabhängig von laufenden Kampagnen prüfen, wie sie aus ihrem Markenkern heraus einen Beitrag leisten können: Der Fahrvermittler Uber bietet kostenlose Fahrten aus der Ukraine nach Polen an. armedangels verschickt Kleidungsspenden und sorgt dafür, dass sie dort ankommen, wo sie wirklich gebraucht werden. Etsy erlässt allen Privatverkäufern in der Ukraine die noch offenen Posten und Gebühren. Unser Kunde Aktion Mensch beginnt mit einem großen Projekt, um sehr schutzbedürftige Gruppen, Menschen mit Behinderung und Kinder, aus den Kriegsgebieten zu befördern. Airbnb wirbt Vermieter, um 100,000 Unterkünfte für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen und startet auf Basis der Idee eines Influencers die Aktion, ukrainische Unterkünfte für direkte Hilfe zu buchen und auszulasten. Diverse Lebensmittel- und Babybedarfshersteller stellen Sachspenden und unterstützen durch ihre Produkte. Handeln statt Reden ist die Devise und ich merke, dass ich sehr genau beobachte, wie die Marken, denen ich folge, mit der Krise umgehen und gleichzeitig einen der wichtigsten Zukunftstrends der Kommunikation leben.
Die Krise scheint ein Beschleuniger zu sein, durch den auch Firmen, die keinen sozialen Aspekt in ihrem Markenkern in den Vordergrund rücken, Purpose leben können und einen Mehrwert durch ihr Produkt oder ihre Leistung beitragen können. Die Konsumentinnen und Konsumenten beobachten jeden Schritt und goutieren große Gesten mit vielen Likes und Interaktionen. Wer nicht spendet oder sich engagiert, fällt auf. Und so entsteht immer weiter Druck auf Unternehmen und eine Kettenreaktion in der Unternehmenswelt, die schon als Protestbewegung gewertet werden kann. Die Konsument:innen fordern Marken zu Haltung auf. Nicht nur in Bezug auf den Ausstieg aus dem russischen Markt.
6 Gedanken als Orientierungshilfe
Was heißt all das nun für werbliche Kommunikation? Nach der ersten inneren Zerrissenheit und einem Diskurs, der auch individuell pro Kunde immer neu geführt werden muss, werde ich zunehmend rationaler in der Meinung, dass Produkte und Dienstleistungen auch weiter benötigt und gekauft werden, unabhängig davon, ob in einem anderen europäischen Land Frieden oder Krieg herrscht. Dennoch muss man sehr sensibel von Fall zu Fall entscheiden, ob die Kampagnen für die aktuelle Situation gut aufgestellt sind. Die nachfolgenden sechs Punkte können dabei eine Orientierungshilfe sein:
1. Content is King, aber Context ist alles
Dieses Credo gilt heute mehr denn je. Brand-Safety-Tools, Channel/Sitelist-Optimierungen und ggf. auch Umplanungen laufender oder kommender Kampagnen stehen an der Tagesordnung. Kein Kunde möchte seine Werbung neben schrecklichen Kriegsbildern sehen und wir müssen alles daransetzen, das Zusammenspiel zu vermeiden.
2. Check aller Creatives auf sensible Inhalte
Auch wenn wir noch so gut die Ausspielung von Werbung neben kritischen Inhalten vermeiden, sollten auch Text und Bild der Kampagnen sensibel beäugt und eingesetzt werden. Gibt es die kleinste Chance einer falschen Zuordnung oder Auslegung, sollten die Motive geändert oder Kampagnen zunächst verschoben werden.
3. Was ist das Kampagnenziel?
Möchte ich meine Markenwerte weiter ausbauen? Gerade in den ersten Kriegswochen fehlt es möglicherweise an der Aufnahmefähigkeit, um werbliche Botschaften langfristig im Kopf zu verankern. Langfristig macht es Sinn, die Ziele anzupassen, die Kampagne zu verschieben oder die Kanalplanung zu überdenken. Zudem sollte man sich davor hüten, in unbedachten Aktionismus zu fallen. Sein Image mit der Krise zu „schmücken“, beispielsweise durch die Einfärbung eines Logos, kann sich schnell ins Gegenteil umwandeln, weiß Karl Peter Fischer, Professor für Marketing und Werbepsychologie. „Solche anlassbezogene Werbung zielt darauf, das Image zu verbessern. Das geht schnell nach hinten los. Die Positionierung gelingt nur, wenn sie extrem glaubwürdig ist, weil man sich schon länger immer wieder sichtbar engagiert hat“, moniert er.
4. Check des Mediamixes
Wenn im TV und Radio die Kriegsberichterstattung dominiert, sollte man prüfen, ob ein Teil des Budgets nicht weiter auf Zerstreuungsmedien gerichtet werden sollte. Der Global Web Index (GWI) hat in seiner Studie „Connecting the Dots“ bereits den Einfluss der Pandemie als internationale Krise auf die Mediennutzung untersucht. Nach der Informationswut rund um den Pandemiestart und einem Reichweitenboost der sozialen Medien entwickelten viele Menschen eine „Bildschirmmüdigkeit“ und entzogen sich bewusst psychisch belastenden Nachrichtenquellen. Zerstreuungsmedien wie Podcasts, Music Streaming, VOD oder Gaming gewannen dadurch immer weiter an Reichweiten. Die Entwicklung hin zu einer „Weltflucht“ stärkt auch weiterhin vor allem die Kanäle Audio und Gaming: „Transitioning from a pandemic to an endemic context is likely to be an emotionally fraught process for many. Escapism is a quality that could well remain in high demand.“ Die aktuelle Krise könnte diese Entwicklung noch schneller vorantreiben und abermals Zielgruppen aus den linearen Medien abwerben.
5. Erzählen, was man Gutes tut
Viele Menschen spüren aktuell große Hilflosigkeit. Marken bieten Orientierung und die Taten großer Unternehmen spenden Hoffnung und fördern das Solidaritätsgefühl. Wenn die Hilfsangebote authentisch aus dem Markenkern heraus entwickelt oder auch einfach nur in Form von Geldspenden mitfühlend kommuniziert werden, bindet diese Haltung auch Konsument:innen.
6. Fallback-Szenarien einplanen
Wir alle hoffen auf ein schnelles Ende dieses Krieges. Momentan ist die Situation weiter unübersichtlich; umso wichtiger ist es, mögliche Szenarien und ihre Auswirkung auf die Kommunikation durchzusprechen. Es gibt einen Punkt im Krieg, da sollte jegliche Kommunikation gestoppt werden. Kunden sollten mit ihrem Agenturteam besprechen, welche Abstufungen der Krise sie sehen und wann alles abgeschaltet werden sollte. Die Vorläufe zum Abschalten sollten allen Beteiligten klar sein und vor allem auch die Verfügbarkeiten/Notfallkontakte an den Wochenenden. Krisenkommunikation sollte nicht nur mit PR- sondern auch Mediaagenturen besprochen werden.
Unsere Aufgabe als Agentur wird es nun weiterhin sein, jeden Tag aufs Neue die Entwicklungen zu beleuchten und im Rahmen von Erfolgsanalysen die Variable „Krieg“ mit einzubeziehen. Vor allem gilt es aber auch, im Kollegium zu sprechen und den permanenten Krisenmodus in die Performance jedes Einzelnen einzubeziehen. Unsere Arbeit gibt uns Struktur in diesen Zeiten, aber wir sind alle nur Menschen. Die Solidaritätswelle, auch bei CROSSMEDIA, ist überwältigend und spendet viel Hoffnung, aber das Gefühl der Hilflosigkeit drückt sich immer wieder an die Oberfläche. Es braucht Raum, in dem Gedanken besprochen werden können, und gemeinsame Projekte, um Selbstwirksamkeit zu spüren.
Vor drei Wochen hätte ich nicht gedacht, dass ich jemals einen Artikel zu einem solchen Thema schreiben würde. Meine Hoffnung ist, dass er schon bald wieder obsolet ist.
Foto-Credit: Marcos Paulo Prado (Unsplash)
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